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KULTURPROGRAMM & MEHR

Voll Eighties

Grüne Hexe fürs Bömmelchen

Skater, Punks & Fiorucci:
Münster war sooo Eighties...

Unsere Münsterreportage über die Lambertibrunnen-Szene der Spätsiebziger/Frühachtziger hat viele Leserreaktionen hervorgerufen. Ältere Leser kriegten einen Nostalgieflash, viele jüngere fanden's cringe, zu lesen, wo ihre Alten früher chillten. Darum führen wir die Geschichte fort und fangen da an, wo der Brunnentreff aufhörte: The next Generation...

The new Breaks

1982 verbreitete sich das erstaunliche Gerücht, dass ausgerechnet in der als „Popper-Schuppen“ verrufenen Disco Tenne am Alten Fischmarkt ein DJ eine neue, ganz unerhört coole Musik spielen soll. Dieser Sound klang seltsam abgehackt und wurde von einem Typen namens Grandmaster Flash produziert. Plötzlich tauchten in der Ludgeristraße regelmäßig ein paar Dudes in komischen Klamotten auf, die zu der Musik aus der Tenne, die aus einem riesigen Ghettoblaster kam, spastische Zuckungen und Verrenkungen aufführten. „Das ist Breakdance", erklärten sie. Die Punks schüttelten bloß die Köpfe über diese merkwürdige Show.

Sliden mit Titus

Bald darauf hörte man, dass sich am Ostbad eine neue schräge Szene treffen würde. Da waren Sportfreaks, die auf Rollbrettern über selbstgebaute Rampen fuhren. Dazu hörten sie Ami-Punk, aber auch schon diese seltsame Musik aus der Tenne. Zum ihrem Dresscode gehörten Mokassin-ähnliche Turnschuhe mit und ohne Schachbrettmuster, die sich Vans nannten. Die Punks in ihren Springerstiefeln tippten sich nur an die Stirn. Nachdenklich machte sie allerdings, dass dieses Skateboarding offenbar bei den gleichaltrigen Mädels ziemlich gut ankam...

Die Kellerpunks

Obwohl Punk in den 80ern fast schon anachronistisch war, peitschten ein paar Münsteraner Schüler das tote Pferd nochmal gnadenlos auf die Hufe. Die Kellerkombo Äni(x)Väx war musikalisch eher Kreisklasse, aber ein Meister in eigener Mythenbildung. Damit besaß Münster nun einen weiteren Exportartikel, dessen schräbbelige Haudraufsongs sogar 2021 auf extradickem Vinyl und mit Edelbooklet wiederveröffentlicht wurden. Bis heute orakeln Gelehrte über die Bedeutung des kryptischen Bandnamens. Vergesst es - es hat nie eine gegeben.

Glatze oder Psycho

Kurzzeitig besaß Münster sogar eine kleine Skinheadszene. Das knappe Dutzend Bomberjacken machte sich einen Jux daraus, nachts auf der Promenade Studenten zu verwemmsen. Blöd war nur, dass man in diesem Outfit nicht in den angesagten Club Odeon an der Frauenstraße kam. Das linke Stadtblatt machte im April 1986 mit einer Titelstory über die Glatzen-Gang auf. Die Skins beschwerten sich anschließend darüber, von Redakteur Jürgen Kehrer (genau, der spätere Wilsberg-Erfinder!) im Interview falsch zitiert worden zu sein. Kurz darauf löste sich die Szene auf. Praktischerweise brauchten sich die Skinheads nur eine kleine Stirnlocke wachsen lassen und erklären, sie seien jetzt „Psychobillys“ - als solche hatten sie wieder freien Zutritt zu Clubs und Kneipen. Der Rest des Outfits war identisch.

Leider verschollen!

Ein Mann, der diese Zeit lückenlos in Bildern festhielt, war der Pressefotograf Gerd Beike. Beike fotografierte erst für die Münstersche Zeitung, dann für die Westfälischen Nachrichten. Allabendlich zog er durch die Clubs und Musikkneipen und knipste junge Nachwuchsmusiker und ihr Publikum, vom jungen Götz Alsmann in der Destille an der Jüdefelder Straße bis zu El Bosso & die Ping-Pongs im Paul-Gerhardt-Jugendzentrum am Bahnhof. Seit seinem Tod im Jahr 2005 ist sein privates Fotoarchiv verschollen und damit die Dokumentation einer ganzen Ära gelöscht. Für so einige Studimädels, die Beike überredete, spärlich bekleidet für St. Pauli-Erotikpostillen zu posieren, wohl ein Glück.

Münsters Gastro-Pate

Einer, der Münster aktiv gestaltete, war der Gastronom Jürgen Köhn. In rascher Folge eröffnete er ein Szenelokal nach dem anderen! Seine Konzepte waren innovativ und avantgardistisch und brachten Münsters Gastronomie auf die Höhe der Zeit. Es begann mit der Kneipe Der bunte Vogel, die er mitten auf der Rothenburg eröffnete. Der neue Style aus blanken Tischen und Art-Deco-Lampen schlug sofort ein. Mit dem Liveclub Odeon in der ehemaligen Gaststätte Freitag brachte er Münster auf die Tourneepläne bekannter Acts. Doch zunächst musste sich eine Band mit dem Namen Die Toten Hosen Anfang 1983 anhören: „Ihr wollt hier auftreten? Habt ihr denn überhaupt schon 'ne Platte?“ Der Sänger verlegen: „Äh nee, nur 'ne Demo-Kassette - aber die Platte kommt demnächst 'raus, echt.“ Zu dem Konzert erschienen etwa 150 zahlende Besucher.

Koksen auf'm Klo

In Köhns Disco Calypso (Bogenstraße, vormals Knipperdollinck) wurde damals schon auf dem Klo gekokst, bis ein abgewiesener Gast aus Rache die Toilette mit Böllern sprengte. In seinem Kellerclub Cheetah (Hörsterstraße) ging am Wochenende vor allem der Cocktail „Grüne Hexe“ (Blue Curacao mit O-Saft) über den Tresen — eine Haupt-Scheußlichkeit der 80er. Das Must-Have dort waren Loafers („College-Schuhe") mit putzigen „Bömmelchen“ sowie Klamotten von Fiorucci. Das Go-Go (später Gazelle) von Jürgen Köhn und Marc Brouwer war nach der Eule die erste Location in Münster, die bis fünf Uhr früh geöffnet war.

Daneben gab es finstere Kaschemmen wie den Landsmann (heute Rote Lola) oder Zum Türmer am Mauritztor (später Metro, dann Lampengeschäft) mit automatischer Aufs-Maul-Garantie. Die Disco Depot an der Kleimannbrücke (später Club Charlotte) war für Drogendeals auf dem Parkplatz bekannt und für verstrahlte Party-Zombies, die früh morgens über den Schiffahrter Damm torkelten.

Oberchecker Günther

Platten mit dem Soundtrack zum Lebensgefühl der 80ies gab es zunächst nur bei rund & eckig neben dem alten Karstadt an der Salzstraße. Bald bot Cha-Cha auf der Rothenburg neben Musik in einer dem Plattenladen angeschlossenen Boutique auch das passende Outfit zur jeweiligen Jugendsubkultur. Der Laden war derart hip, dass sogar die Plastiktüten mit dem Logo in manchem Heim als Wanddeko aufgehängt wurden. Allein bei Cha-Cha herumzuhängen, ohne etwas zu kaufen, galt schon als extrem coole Beschäftigung. Musiknerds konnten hier mit dem legendären Verkäufer Günther Kösters stundenlang über neue Bands fachsimpeln. Kösters hat den Musikgeschmack einer Münsteraner Generation entscheidend beeinflusst. Später bot fifty-fifty (Von-Steuben-Str.) das komplette Modesortiment vom Lonsdale-Shirt über Nietengürtel bis zu Doc Martens.

Aufhören, aufhören...

Die idealistische Do-it-yourself-Posse Aardvark um den späteren Green Hell-Gründer Alfred Bradford veranstaltete seit Mitte der Achtziger kleine Punkkonzerte im dritten Stock des Jugend-Informations- und Bildungszentrums (JiB) an der Hafenstraße. Im Mai 1987 zogen sie um ins Café Gleis 22. Beim Auftritt einer grottenschlechten Lokalpunkband fiel im Publikum eine Bierflasche zu Boden. Sänger: „Wenn noch eine Flasche geworfen wird, hören wir sofort auf!“ Etliche Zuschauer ließen spontan ihr Bier fallen... 30 Jahre später wurde das Gleis mehrfach in Folge zum beliebtesten Club Deutschlands gewählt.

Auf der Schwelle zu den Neunzigern entstand mit X-Floor und Hassos Keller am Hawerkamp eine völlig neue alternative Szene, die den Achtziger-Style endgültig ablöste.

Carsten Krystofiak

(aus Ultimo Münster 11/2021)