Als der berühmte Reiseführer Merian 2006 ein Sonderheft über Münster herausgab, war darin keine Spur mehr vom Herdfeuer-Schinken-Pinkus-Klischee. Stattdessen zeigten die Redakteure Münster als junge und hippe Mini-Metropole.
Einen dicken Anteil an dieser neuen Wahrnehmung hatte Münsters Hafen. Die Merian-Fotografen kriegten gar nicht genug vom trendigen „Kreativkai“. Nur damit niemand auf die Idee kommt, es hätte dort schon immer so ausgesehen, haben wir die Geschichte des 750 Meter langen Hafenbeckens ausgegraben.
Der alte Seebär
1899 wurde der Dortmund-Ems-Kanal von Dortmund nach Papenburg durch S.M. Kaiser Wilhelm II. feierlich eröffnet. Die Münsteraner hatten doppelten Grund zum Feiern: Erstens versprach der Kanal eine Anbindung an den überregionalen Handel; zweitens leistete sich die Stadt auch noch einen eigenen Hafen, der Münsters Wirtschaft starke Impulse geben sollte. Am Ende des Hafenbeckens wurde ein stolzes Denkmal enthüllt, das einen alten Seebären mit Südwester und Steuerrad darstellte.
Die Sache lief wie geschmiert: Bald wurden pro Jahr gut 200.000 Tonnen Viehfutter, Bauholz und Kolonialwaren wie Kaffee und Kakao von den Kähnen gelöscht. 19 Schiffe von bis zu 100 Metern Länge konnten gleichzeitig im Hafen anlegen. Zehn Jahre nach der festlichen Einweihung galt Münsters Hafen nach Duisburg als größter Getreideumschlagplatz im Westen.
Malochen, malochen
Um 1930 hatten sich viele große Betriebe angesiedelt: Die Kornspeicher der Raiffeisen-Centralgenossenschaft, das riesige Holzlager von Ostermann & Scheiwe (heute OSMO-Hallen-Gelände), das städtische Gas- und E-Werk, die Wagenhalle der Straßenbahn, der Lebensmittel-Großhändler Stroetmann, die Parkettfabrik Theissing, die münsterische Lagerhaus-Aktien-Gesellschaft, Kiesekamps Mühle, Flechtheim, Tepper und die Spedition Peters, die am Albersloher Weg ihr eigenes Hafenbecken hatte. 1935 malochten in rund 80 Betrieben etwa 2.000 Arbeiter. Ja, Münster hatte damals tatsächlich eine Arbeiterschaft...
Die Hafen-Gang
Der hektische Betrieb wirkte auf Jugendliche abenteuerlich. An der Ecke Hansaring/Gallitzinstraße (heute Soester Str.) trafen sich jeden Tag die Mitglieder des Hafensturms, einer Posse von Hansaviertel-Kids. Heinz, Gerd, Josef, Mütchen, Böbke, die Brüder Tewe, Kalla, Fritz, Waldemar und Edith kosteten den Hafenmeister etliche Nerven, denn die Gang hatte nix als Scheiß im Kopp. Die zehn Jungs und ihre Freundin kaperten Kähne, ärgerten Kohlenträger oder steckten Pferdeäpfel in die Brötchentüten vor den Hauseingängen. Am meisten liebten sie es, Loren der Hafenbahn auf einer Gefällstrecke in Schwung zu bringen und vor den Prellbock fahren zu lassen - und natürlich selbst vorher abzuspringen.
Doch die spassigen Tage waren bald vorbei. Bereits im August 1940 erfolgte der erste Bombenangriff durch die britische Luftwaffe. Die Bomben trafen nur ein Lagerhaus am Hansaring. Zu den Trümmern pilgerten hunderte Schaulustige - die ersten Bombenschäden im Westen galten als Sensation. Doch wenige Tage später brannte der Hafen: Nachts um halb zwei standen 20.000 Kubikmeter Holz in den Osmohallen in Flammen! Im Hafenbecken brannten fünf Schiffe. Das Feuer war bis weit über Münster hinaus zu sehen.
Bomben & Wracks
Von der halben Million Tonnen, die während des Krieges jährlich in Münsters Hafen verladen wurde, sank der Umschlag bei Kriegsende erstmal auf Null. Kaimauern, Speicher, Gleise und Entladekräne waren zerstört, im Hafenbecken lagen Wracks versenkter Schiffe. Und Blindgänger lauerten auf dem Grund. Gutachter stuften den Zustand als „völlig unbrauchbar“ ein.
Doch weil für den Wiederaufbau dringend Material auf dem Binnenwasserweg verschifft werden mußte, machten sich die Münsteraner gleich ans Aufräumen. Schon ein Jahr nach Kriegsende nahm der Hafen den Betrieb wieder auf. Und nun ging's erst richtig los: 1953 übergab die Stadt den Hafenbetrieb in die Verantwortung der Stadtwerke, die ihn seitdem betreiben. Bald erreichte der Warenverkehr seinen Höhepunkt: 1962 brachten 4.300 Schiffe über eine Mio. Tonnen Getreide, Baustoffe, Kohlen und sonstige Güter in die Stadt.
Bier & linke Projekte
Doch damit hatte Münsters Hafen seinen Zenit überschritten. Wichtige Betriebe wanderten ab, die Centralgenossenschaft zum Industrieweg, das Tanklager zum Hessenweg. Die Umschlagzahlen gingen zurück. Bald wurde das Bild von leerstehenden Lagerhallen, ungenutzten Betriebsgeländen und brachliegenden Grundstücken geprägt. Münsters Hafen fiel in ins Wachkoma.
Dafür entdeckten Mitte der 80er alternative Unternehmen den damals billigen Gewerberaum. Neben dem linken Stadtblatt siedelte sich auch der Ultimo-Verlag am Hafenweg an, ebenso wie die Druckwerkstatt, die allerlei Publikationen der linken Szene druckte. Sommertags besuchten vereinzelt Studis die verwunschenen Kais, um sich auf den alten Verladerampen bei einem Bier von der Tanke zu sonnen.
Der Makler-Claim
Doch die Stille wurde bald unterbrochen: In den 90ern kam Thomas Pieper und Kollegen die Abgeschiedenheit des Hafens gerade recht, um hier unbehelligt von Anwohnern die House-Disco Dockland zu eröffnen. Währenddessen hatte am anderen Ende des Hafenweges ein junger Idealist eine Idee: Mit städtischer Hilfe sollte ein öffentliches Kommunikations- und Medienzentrum entstehen. Mit großen Plänen stellte er sein Konzept der Stadt vor. Sein Konzept landete im Papierkorb - aber der Titel schlug ein wie eine Bombe: Kreativkai!
Mit dem Hornsignal „Kreativkai“ weckte man Investoren, Makler und Planer zum Sturm auf den Hafen. Die Goldgräber rissen sich um die besten Claims. Dazu wurde erstmal Platz geschaffen: Die Gründerzeitvilla des Hafenmeisters wurde ebenso abgerissen, wie diverse Verladekräne. Kreativ war das irgendwie nicht, aber schick. Der rauhe Charme wurde schließlich unter einer postmodernen Fußgängerzone beerdigt.
Dicke Pötte...
2006 wurde der Hafen mit der Einstellung der Kohleverschiffung als Warenumschlagplatz endgültig bedeutungslos. Und mit dem Wegzug des Gefahrgutlagers Lehnkering (am Ufer gegenüber dem Kreativkai, Höhe Hot Jazz Club) wird schon bald ein ganz neues Hafenkapitel aufgeschlagen. Langfristig wird der Hafen zum Wohngebiet. Ob sich die neuen Anwohner dann wohl über den Betrieb der Restaurants beschweren? Mit der Verbreiterung des Dortmund-Ems-Kanals in den nächsten Jahren wird übrigens auch der dahindümpelnde Güterverkehr wieder zunehmen. Als Warenumschlagplatz wird Münsters Hafen aber davon nicht profitieren, keiner der zukünftig größeren Frachter könnte im Hafenbecken festmachen.
Was auch immer die Architekten aus Münsters Hafen machen - es wird Zeit, dass sie endlich ein Detail verwirklichen, das ihm seit 1899 fehlt: Eine Radfahrerbrücke vom Hafenweg zum Mittelhafen...
Carsten Krystofiak, Foto: Kim Wibbelt
(aus Ultimo Münster 13/2012)