Auf Facebook hat sich unlängst eine private Gruppe namens Brunnenscene Münster gegründet. Alte Silberrücken wissen sofort, was gemeint ist und sagen: „Jau, das waren jovle Zeiten, damals am Brunnen!“ Wenn bei euch jetzt nur Fragezeichen überm Kopf schweben, seid ihr definitiv nach 1980 geboren. Darum erzählen wir euch, was es damit auf sich hatte. Anschnallen zur Zeitreise!
Schön schäbbich
Den Lambertibrunnen und die Salzstraße gab es natürlich auch schon in den 1970er und -80er Jahren. Aber damals sah das Set etwas anders aus als heute: Dort, wo die letzten 30 Jahre das Modehaus Leffers war, existierte früher das „Billig-Kaufhaus“ bil-ka, eine schäbige Ramsch-Kaufhalle mit einem riesigen rotierenden Hähnchengrill. Brrr...
Daneben lag ein Tchibo-Stehcafé. Die Tasse kostete 30 Pfennig. An der Ecke zum Brunnen waren ein Geschäft für Kirchenbedarf und ein winziger Laden für Briefmarkensammler. Die Adler-Apotheke gab es damals schon.
Neben der Apotheke, wo früher der Tabakladen Mühlensiepen war, hatte die Polizei im ersten OG eine konspirative Observations-Wohnung angemietet, vor deren Fenster zum Lambertibrunnen stets die Jalousien heruntergelassen waren, um vermutete Verstöße gegen das „Betäubungsmittel-Gesetz“ zu dokumentieren. Jedenfalls wurde dieses Gerücht über Generationen weitergegeben...
Bloß kein Spiesser!
Vor dieser Kulisse tummelte sich jeden Mittag nach Schulschluss, besonders samstags, ein buntes, vielköpfiges Völkchen aus Oberstufenschülern der Münsteraner Gymnasien, vor allem von Schlaun, Rats und Paulinum. Lange Haare, Parka und Jeans mit Schlag waren angesagt. Bloß anders sein, als die „Wohlstandsspießer“. Die 70er-Popkultur löste mit Deep Purple, Led Zeppelin, Roxy Music und David Bowie die 68er-Revolte und ihre verkniffenen Politbarden ab. Begleitet wurde der mittägliche Aufmarsch von stadtbekannten Figuren, wie dem immer beschwingten Penner Charlie oder dem verwachsenen Gelehrten Hans, der Passanten mit philosophischen Vorträgen vollquasselte oder dem Arien schmetternden Erwin. Weitere Farbtupfer bildeten Scharen von Hippies, Freaks und Gammlern sowie der Paradiesvogel auf Plateausohlen und Glitterflitter-Objektkastenbastler Roxy Heart.
Der Rollstuhl-Trick
Daneben drückten sich am Brunnen noch obskure Typen wie der gefährliche „Zigeuner-Michel“ aus Oberhausen herum, der schnell mit dem Stilett zur Hand war, wenn er Beute witterte. Oder der pockennarbige „Kaleu“, der sich morgens im Sanitätshaus Sumser einen Rollstuhl auslieh und darin unter die Bögen setzte, auf den Knien ein Schild mit dem Text: „Sammle Geld für eine Operation in der Schweiz“. Abends brachte er den Rollstuhl zurück - und versoff die Tageskasse in der Musikpinte Neuer Krug an der Weseler Straße...
Was zu Knattern?
Hochbetrieb war am Brunnen immer samstags nach Schulschluss. Durch das dichte Gewirr von hunderten Pennälern und Hippies kamen brave Passanten in der engen Salzstraße kaum noch durch. Rund um den Brunnen standen die Cliquen eng zusammen und planten das Wochenende. Der „Brunnen“ war quasi der analoge Chatroom der 70er, die Münsteraner Nachrichtenbörse für Partys, Tratsch, Unternehmungen und die Frage, wer was zum, ähem, Rauchen hat.
Bei schönem Wetter gings nachmittags auf die Aaseewiesen und bei Regen zog die Kerntruppe wie ein Wallensteinsches Heerlager in die offene Passage des Modehauses Boecker (heute Appelrath-Cüpper) zwischen Lambertikirchplatz und Prinzipalmarkt, die später aus genau diesem Grund geschlossen wurde.
Ebbys Fotoarchiv
Wie kam der Brunnen nun, nach fast 50 Jahren, zu einer Facebook-Gruppe? Der Münsteraner Eberhard „Ebby“ Hahne (65), heute Fotograf in Köln, erzählt: „Corona-bedingt hatte ich endlich mal Zeit, mein Fotoarchiv zu digitalisieren. Dabei fand ich etliche Negative von der damaligen Szene am Brunnen. Mit Unterstützung eines alten Kumpels, Micha Dalmühle, habe ich die Facebook-Gruppe gegründet, um die wenigen Bilddokumente und Anekdoten aus der Zeit zusammen zu führen, bevor sie im Nirwana verschwinden. Ziel ist es, dieses Stückchen Münsteraner Stadtgeschichte und Jugendkultur in einem Buch zusammenzufassen.
Ein toller Nebeneffekt ist, dass sich alte Freunde, die es oft in alle Himmelsrichtungen verschlagen hat, nach fast einem halben Jahrhundert wiedergefunden haben. Inzwischen tummeln sich über 400 Mitglieder in der Gruppe. „Fast wie in alten Zeiten, nun halt zeitgemäß im virtuellen Orbit.“
Was schäumt denn da?
So entstand ein reicher Fundus zeitgeschichtlicher Dokumente und launiger Erinnerungen. Leider gab es in der analogen Zeit keine Handykameras und kaum jemand kam auf den Gedanken, eine Kamera für Schnappschüsse mit in die Stadt zu nehmen. Außerdem wäre man mit einem Fotoapparat am Brunnen wohl sofort verdächtigt worden, ein Zivilfahnder des Rauschgiftdezernats zu sein. Darum sind Fotos aus dieser Zeit ausgesprochen selten.
Dafür ist noch so manche Schote in Erinnerung. Ebby: „Wir haben Kaliumpermanganat aus dem Chemieunterricht mitgehen lassen und mit Waschmittel in den Brunnen geschüttet. Das Ergebnis war eine gigantische rosa Schaumwolke, einfach herrlich!“
Dicke-Hose-Punx
In den Achtzigern tauchte die nächste Generation am Brunnen auf: Die Dudes mit den schwarzen Lederjacken, bunten Haaren und Sex Pistols-Badges oder auch die ersten Rastas mit ihren Dreadlocks. Die zwei, drei Dutzend „MS-Panx“ machten schwer auf dicke Hose, waren aber ansonsten mit gegenseitigen Animositäten ausgelastet.
Unter ihnen befanden sich z.B. der heutige New Yorker Kunstprofessor Josef Zutelgte oder Westbam. Die DJ-Legende nannte sich damals noch Frank Xerox und zeichnete in seinem Fanzine Schwarz-Rot-Gold eine ziemlich gehässige Karikatur eines späteren „Chefreporters“ - those were the days...
Und tschüss!
1984 wurde der Samstagsunterricht bis 12 Uhr durch eine Schulreform plötzlich abgeschafft. Zudem gab es inzwischen allerlei alternative Treffs, etwa den Bunten Vogel, der zunächst auf der Rothenburg eröffnete und dann an den Alten Steinweg zog. Damit zerstreute sich die Brunnenszene und war ab Mitte der Achtziger Geschichte. Ebenso wie das bil-ka (das seltsamerweise immer „die bilka“ genannt wurde). Die Geschäftsleute und Bürger atmeten auf! Einige Protagonisten der Szene haben ihren eigenen Lifestyle nicht überlebt, wurden Opfer von Drogen oder Depressionen. Doch der Brunnen war mehr als ein Jahrzehnt der angesagte Hotspot in der Stadt und ein prägender Teil der Münsteraner Jugendkultur.
Wer der FB-Gruppe beitreten möchte und/oder Material über die Brunnen-Szene beisteuern kann, schreibt eine Mail an brunnenscene-muenster@gmx.de.
Carsten Krystofiak, Fotos: Ebby Hahne
(aus Ultimo Münster 9-10/2021)