Und hier, liebe Kinder, der letzte Teil unserer Trilogie über Münsters Szene in den 70ern, 80ern und - tadaaa! - den 90ern: The Rise Of The Hawerkamp! Holt Euch Popcorn...
In den späten 80er Jahren bestand Münsters Clubszene im Wesentlichen aus dem Viereck Odeon - Gogo - Jovel - Gleis. Diese Platzhirsche bestimmten unser Ausgehen. Doch plötzlich tat sich unvermutet ein neues Biotop auf, das sofort von Pionieren erobert wurde: 1988 meldete das traditionsreiche Beton-Unternehmen Peter Büscher & Sohn (Pebüso) am Hawerkamp Konkurs an.
Die Brache lebt!
Die Firma, deren Prokurist einst ein mächtiges Paolbürger-Netzwerk gegründet hatte, hinterließ mehrere Hektar Gelände mit angejahrter Industriearchitektur - ein riesiger Abenteuerspielplatz! Neben Moos und Birkensamen siedelten sich bereits 1989 einige Autoschrauber und Künstler an. Erste Spontan-Partys mit Kerzenlicht und Tanke-Bier in dem Wasteland-Flair ließen sofort das Event-Potenzial der Brache erkennen. Zudem bot die Quasi-Insellage einen natürlichen Vorteil: Der Sackgassencharakter schützte vor störendem Durchgangsverkehr. Und weit und breit keine Anwohner - die Location war perfekt!
Techno im Bunker
Plötzlich kursierten Partyflyer in der Stadt, auf denen ganz neue Clubnamen standen: X-Floor und Cosmic Club. Die legendären Lokale im alten Belegschaftshaus zählt man heute zu den vermutlich frühesten Techno-Clubs in ganz Europa. Und dann öffnete Hassos Keller: Der Metalldesigner Hasso Maaß hatte ein Gewölbe in der Nähe des Spitzbunkers aus Kriegstagen freigelegt. Geflacker von Kerzenstummeln, Dosenbier und infernalisch hallender Sound verliehen dem Loch eine atmosphärische Mischung aus Führerbunker und Eisenbahntunnel.
Es füllt sich...
Schlag auf Schlag zogen neue Nachbarn ein: Das Verwaltungsgebäude bezogen das Schwulenzentrum KCM sowie der Verlag Monsenstein & Vannerdat. Die frühere Maschinenhalle wurde zur Heimat von Triptychon und Sputnikhalle. Und die ehemaligen Schweißerei entdeckten u.a. Rare Guitar und der Stahlkünstler Uli Pätsch.
Förderbänder und Silotürme der alten Produktionsanlage wurden demontiert und per Kanalschiff abtransportiert. Über tausend Tonnen Material gingen auf die Reise an die polnische Ostseeküste. In Redzikowo baute die polnische Betonbaufirma Spedbud Teile des Pebüso-Werkes wieder auf.
1993 taucht ein gemütlicher Typ mit dem Künstlernamen DJ Niggels aus Salzbergen auf. Der Depeche Mode-Ultra veranstaltet eine EBM-Party mit dem Titel Electrofixx. Was sich anhört, wie ein DDR-Haushaltsgerät, ist noch Jahrzehnte später eines der traditionsreichsten Partyformate der Stadt.
Neben dem hauseigenen Electric Ballroom veranstaltet GIG-Magazin-Herausgeber Hubert Steinert mit großem Zulauf seine Rock-O-Mania in der „Sputte“. Auch David Sander entdeckt hier ein Quartier für seine Metro-Party.
Wollis fette Patte
Von Anfang an dabei war Martin Rösner, Tischler und Sozialarbeiter der Caritas-Lehrwerkstatt im Keller des Haupthauses. Er erinnert sich: „Gläubiger war die Deutsche Bank. Man zahlte einfach einen selbst festgelegten Phantasiebetrag als Miete und schon war man offiziell legaler Anlieger und kein Besetzer."
Die Behörden hatten den Kamp fest im Blick: Mittelklasse-Volkswagen in gedeckter Lackierung mit WAF-Kennzeichen und zwei Männern mittleren Alters besetzt, sorgten für das Sicherheitsgefühl dauernder Polizeipräsenz.
Trotzdem eskalierten zeitweilig Raub und Gewalt. Erstaunlicherweise traf es nur selten den X-Floor-Betreiber „Wolli“, der zuweilen über zehntausend D-Mark in seinem Portemonnaie hinten im Hosenbund trug wie ein Kellner...
Moin, Hausmeister!
Sehr bald wurden die Technopartys am Hawerkamp von tausenden Auswärtigen von Wilhelmshaven bis Frankfurt belagert, die wegen fehlender Ortskenntnis ihr Auto einfach auf der Brücke Albersloher Weg abstellten und regelmäßig Verkehrschaos stifteten. Ein beliebter Scherz war es, auswärtige Kiddies, die vor Erfindung des Navis erwartungsvoll nach dem Weg zum Hawerkamp fragten, zur Metzgerei Haverkamp am Stauffenplatz zu schicken, höhö.
Die einzige Reminiszenz an alte Industriezeiten war der Pebüso-Hausmeister Herr Schünemann. Der weißhaarige Typ in seinem taubengrauen Kittel war nach dem Konkurs einfach übriggeblieben. Der drastischen Veränderung seines Umfeldes trotzte er durch stoische Routine: So stauchte er morgens Partyleichen und verstrahlte Clubbesitzer zusammen, die unvorschriftsmäßig auf dem Gelände herumlagen.
Kampf der Roboter
Momente, die man nicht vergisst: Bei einer Party mit mehreren hundert Gästen in einer Schrauberwerkstatt hatte man einen großen Toilettenwagen besorgt, aber leider vergessen, die Anschlüsse in die Kanalisation zu legen. Am nächsten Morgen wurde der Wagen weggezogen - und darunter zurück blieben einige Kubikmeter Ausscheidungen. Im Hochsommer...
Und dann waren da noch: Das schwimmfähige Weltkrieg-II-U-Boot, welches der Stahlkünstler Uli Pätsch zusammenschweißte und das bei seiner ersten und einzigen „Feindfahrt“ auf dem Kanal für ungläubige Gesichter sorgte. Die Gladiatoren-Performance der hydraulikbetriebenen Schrott-Kampfroboter. Die mysteriöse Doppel-Brandstiftung, die den Proto-Foodtruck Space Gourmet vernichtete. Das beliebte Open-Air-Kino mit kostenloser Grillbenutzung durch das Deutsche Wurst-Institut am Kamp...
FunFact: In einer Arbeitsschutzbroschüre der Berufsgenossenschaft findet sich als Negativbeispiel für mangelnde Sicherheit ein Foto eines Kamp-Mitarbeiters, der eine Clubfassade streicht und dabei auf einer wackeligen Leiter steht, die wiederum auf einer schmalen Mauer steht.
Endlich seriös!
1999 wurde der Verein Erhaltet den Hawerkamp ins Leben gerufen. Der Verein schaffte es, dem Kamp eine politische Lobby zu verschaffen, die seinen Erhalt garantierte. Auch Markus Lewe, damals noch „nur“ CDU-Fraktionschef, war vor Ort, um sich zu informieren. „Leider wurde ich für einen Zivilfahnder des Drogendezernats gehalten“, klagte er gegenüber Ultimo. Har har! Selbst Konservative, die damals langsam auf Grünkurs umschwenken, um „urbane Milieus“ zu erobern, erkennen also den Marketingwert des wilden Areals für Münster.
Tja, eine Stadt, die mit Herdfeuer UND Hawerkamp werben kann, ist im Attraktivitätsranking ganz weit vorne. 2002 wurden die letzten Relikte der Industrie-Ära abgerissen. 2004 erhielt der Verein nach Ratsbeschluss einen Überlassungs- und Selbstverwaltungsvertrag. Bis Corona besuchten jährlich über 100.000 Besucher das kultige Kulturquartier.
Tipp: Auf www.auferstandenausruinen.de gibt's historische Fotos von 2001 und 2009: Klickt auf Suburbanisierung >Industrie und Gewerbe >9. Betonwerk Pebüso.
Carsten Krystofiak
(aus Ultimo Münster 14/2021)