Parkas, Dope &
Mao-Bibeln:
Die Siebziger waren Münsters »Wilde Jahre«
Mal ganz abgesehen davon, dass unsere beschauliche Unistadt von Studi-Protesten und Stadtguerilla-Aktionen nur lahme Operettenversionen erlebte - warum eigentlich waren die 1970er zwischen 68er-Studentenunruhen und dem Deutschen Herbst des RAF-Terrors Münsters „wilde“ Jahre? Warum nicht „Die Hippiejahre“ oder „Die Gammlerjahre“? Dr. Axel Schollmeier, der eine gleichnamige Fotoausstellung im Stadtmuseum Münster konzipierte, erklärt: „Der Wandel in der Jugendkultur entlädt sich in dieser Zeit in unheimlich kurzer Zeit, richtig explosionsartig: Vor '68 läuft sogar Oberrevoluzzer Rudi Dutschke noch im Sonntagsanzug wie auf Omas Beerdigung herum. Und mit einem Mal ist plötzlich alles anders: Lange Haare, Parka, Kommune...“
Und Zeitzeuge Prof. Fritz Vahrenholt (damals Studi an der Uni Münster, später Shell-Aufsichtsrat), pflichtet bei: „In diesen Jahren herrschte noch eine echt revolutionäre Aufbruchsstimmung. Danach erstarrte alles in betonmäßigen Leninismus-Dogmen und Selbsterfahrungskisten.“
Die Ausstellung im Stadtmuseum, zu der ein opulentes Fotobuch im Aschendorff-Verlag vorliegt, zeigte rund 200 Fotos, die allerdings überwiegend von Pressefotografen bei öffentlichen Anlässen gemacht wurden. Dr. Schollmeier entschuldigt: „Wir haben natürlich in Zeitungsaufrufen um private Fotos gebeten. Aber mit relativ wenig Erfolg. Damals gab's eben noch keine Fotohandys; wer hat damals schon auf einer WG-Party seine Riesenkamera mit Blitz rausgeholt?“
Also: war Münster echt so wild? Wir haben mal ein bisschen im Abfall der Annalen gewühlt...
Udos Drogenhölle
Mittelpunkt der jugendlichen Subkultur, im Volksmund hämisch „Gammler“ genannt, ist der Lambertibrunnen, der bei den Münsteranern schnell Der „Rote Platz von Münster“ heißt. Hier wird die Weltrevolution vorbereitet - aber nur gelegentlich und rein theoretisch, denn praktisch besorgt man sich „was zum Knattern“ und verabredet man sich für den Ausgehabend. Viel Auswahl für Treffpunkte steht aber nicht zur Verfügung. Der Bunte Vogel, damals noch mitten auf der Rothenburg, und die Kronenburg sind angesagte Kneipen, in denen einem als männlicher Langhaariger nicht sofort lautstark empfohlen wird, „doch nach drüben“ (in die DDR) auszuwandern.
Der „heißeste Schuppen“ war aber Die Eule auf der Königsstraße, vor allem wegen der Öffnungszeit bis fünf Uhr früh. Im Discokeller tummeln sich Typen wie Martin Stier (heute Schauspieler u.a. in Fickende Fische, SoKo Köln etc.), Paradiesvogel Roxie Heart (Popkünstler mit Glam-Objektkästen) oder Krautrocker Thomas Passmann (später Geier Sturzflug). Ein wichtiges Utensil für den Abend: Die Zahnbürste, die aus der Brusttasche des Parkas schaut. Sie signalisiert: Bin paarungsbereit; suche Übernachtungsangebot...
Im (Ever-)Green, einer ehemaligen Tanzschule Nähe Harsewinkelplatz, vermuten Münsters spießige Eltern eine „Drogenhölle“ - völlig zurecht, wie einer bestätigt, der es wissen muss. Udo Lindenberg erzählt: „Eine wilde Szene. Da waren viele Chaotenköppe, jede Menge Durchdreher und jede Menge Exzesse. Aus der Sicht von damals war's in Münster ziemlich wild.“ Na also.
Die roten Socken
Weil es weder Internet noch Unterschichten-TV gibt, beschäftigen sich junge Leute am liebsten mit Politik. Man zählt die Tage bis zum Sieg des Kommunismus. Nur darüber, ob er besser nach Maos oder Lenins Art serviert werden soll, herrscht noch Uneinigkeit. Aber darüber kann man ja diskutieren - und zwar tage- und nächtelang. Im Sommer 1973 marschieren rund hundert Primaner vom „Schülerkollektiv“ des Schlaungymnasiums spektakulär mit roter Fahne durch die Ludgeristraße. Die Passanten schütteln die Köpfe: Haben die eigentlich keine Hausaufgaben?
Schon 1969 musste die Uni 30.000 DM pro Jahr für die Entfernung von Anarcho-Graffiti berappen. Besonders beliebt: Hosen aus roter Farbe für das Denkmal von Uni-Gründer Fürstenberg. Der beste Wandspruch prangte am Bischofspalais am Domplatz: „Enteignet Gott und Zwischenhandel!“
Unter Spionen
Auch Prof. Fritz Vahrenholt betätigte sich als Revoluzzer: „Als der Studentenprotest den Fachbereich Chemie erreichte, war ich dabei. Ich saß im FB-Rat und führte große Worte über demokratische Beteiligung der Studenten an den Berufungsverfahren der Profs und ähnlichen Quatsch. 1974 ging ich zum neu gegründeten Bundesumweltamt nach Berlin. Bei meiner Verbeamtung kamen plötzlich Typen vom Verfassungsschutz zu mir und stellten Fragen: Stimmt es, dass Sie an der Uni Münster Kontakt zu Kommunisten hatten? Man hielt mir vor, mein VW-Käfer hätte beim SPD-Parteitag in der Halle Münsterland in einer Reihe von Autos geparkt, die allesamt Kommunisten gehört hätten. Ein Professor hatte mich denunziert! Zum Glück konnte ich die Verfassungsschützer doch noch von meiner Harmlosigkeit überzeugen...“
Die Beton-Jahre
Zu Demonstrationszwecken wird viel marschiert. Aber ansonsten fährt der Studi in den frühen 70ern lieber Auto. Weil tausende VW-Käfer und Citroen-Enten morgens vors Schloss fahren (damals noch erlaubt) und mittags in Karawanen zur Aasee-Mensa zuckeln, bricht an jedem Unitag ein Verkehrschaos aus. Das Thema Umwelt ist noch nicht populär. Erst als die Bundesregierung wegen der Ölkrise von 1973 massiv Atomkraftwerke baut, regt sich kritisches Bewusstsein. Kurzzeitig wird sogar erwogen, ein AKW mitten in den Rieselfeldern zu bauen...
In Münster mischen sich Anti-Atom-Studis mit der traditionellen Anti-AKW-Bewegung der Landjugend. In der Westfälisch-Lippischen Landjugend-Zeitung erscheint sogar ein Artikel über Anarchismus!
Solange die Revolution noch auf sich warten lässt, nimmt man schon mal, was die sexuelle derweil bietet. Ein viel größeres Problem ist aber die Wohnungsnot. Obwohl 1969 der Stadtteil Coerde mit 2.300 Wohnungen fertiggestellt wird und anschließend gleich die Betonburgen von Berg Fidel und Kinderhaus in Angriff genommen werden, fehlen tausende preiswerte Unterkünfte. Die billigsten Buden gibt's damals noch im Kreuzviertel, weil dort die meisten Altbauten noch nicht saniert sind. Viele Wohnungen haben Anfang der 70er sogar noch ein Außenklo. Igitt!
Sexy mit Pilz
Vorübergehend mussten sogar Zelte auf dem Hindenburgplatz aufgestellt werden, für rund tausend (!) Erstis, die länger als ein halbes Jahr erfolglos auf Wohnungssuche waren.
1972 greifen die ersten Studis zur Selbsthilfe und besetzen das Haus Grevener Straße 31. Nach zähen Verhandlungen kauft es die Stadt und vermietet es dem AStA.
Wer es schafft, zieht in einen der heißbegehrten Kotten im Umland und gründet eine sexy Land-WG, wo sich ungestört mit allem experimentieren lässt, was die Phytopharmazie so hergibt.
Tja, alles in allem also wirklich ziemlich wilde Zeiten. Aber zum Glück gibt's auch neuen Trost: Wer mit der wilden Zeit nicht mehr mitkommt, für den nimmt 1972 Deutschlands erste Telefonseelsorge in Münster den Dienst auf...
Carsten Krystofiak
(aus Ultimo Münster 22/2007)