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Wiedertäufer

Im Bett mit Jan van Leyden

Königreich und Gottesstaat:
Detlef B. Fischer weiß alles über Münsters Wiedertäufer

Mitte Mai des Jahres 2023 fiel plötzlich auf, dass an zwei der Wiedertäufer-Köpfe, die in Sandstein gemeißelt von den Rathaussäulen schauen, die Nasen abgeschlagen wurden. Der Grund dafür ist rätselhaft. Waren es Taliban oder militante Bischofsanhänger? Vielleicht hat es auch mit dem Erscheinen eines neuen Buches über die Wiedertäufer-Episode 1533 bis 1535 in Münster zu tun. Detlef B. Fischer, Autor des Klassikers Münster von A bis Z, hat in Königreich und Gottesstaat (Verlag Tredition) das Kapitel der Stadtgeschichte neu eingeordnet. Wir haben natürlich reingeschaut...

Raus und rein

Das 16. Jahrhundert, der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, war eine Epoche tiefgreifender Umbrüche mit Gewinnern und Verlierern. Luthers Protestantismus wirbelte zusätzlich die Glaubenswelt durcheinander. Neben der gespaltenen Kirche traten viele weitere Reformbewegungen auf.

Selbsternannte Propheten fanden seinerzeit viele Follower. Als Jan van Leyden als Prophet nach Münster kam, gab es hier bereits eine Gemeinde von ca. 1.400 Wiedertäufern, bei etwa zehntausend Einwohnern! Als der Stadtrat drei prominente Prediger aus der Stadt verwies, trugen ihre zahlreichen Anhänger sie einfach jubelnd durch ein anderes Stadttor wieder hinein. Der Gesichtsverlust des Rates war total.

Das Ende aller Tage

Propheten waren in dem Gottesstaats-Entwurf der Wiedertäufer die Transmitter der göttlichen Botschaften und Befehle, für deren Umsetzung dann das Täuferregime zuständig war. Fischer findet allerdings, dass die Visionen der Wiedertäufer-Propheten auffällig „ausgedacht“ wirken. Die Wiedertäufer verkündeten das nahe Ende aller Tage und jüngste Gericht. Doch dies würde nicht einfach von selbst bzw. Gottes Hand hereinbrechen - man müsse auch ein bißchen nachhelfen und alle Ungläubigen massakrieren. Dummerweise hatten die Wiedertäufer den Weltuntergang mehrfach konkret terminiert - und mussten alle möglichen ideologischen Verrenkungen aufführen, um das Ausbleiben zu erklären.

Gott will es!

Einen neuen Blickwinkel gibt das Buch auch dem Kapitel der Vielweiberei. Die meisten Quellen erklären die Motivation der Wiedertäufer zur Einführung der Polygamie mit einem Frauenüberschuss durch die Auflösung der Klöster. Die meisten Frauen waren ja nicht freiwillig im Kloster, sondern wurden von den Eltern dort „geparkt“, bis ein Heiratskandidat gefunden war. Da diesen ledigen Frauen nun ein Ernährer fehlte, verfügten die Wiedertäufer, dass sich mehrere Frauen einen Ehegatten teilen konnten.

Fischer jedoch schreibt, der wahre Auslöser sei ein anderer gewesen: Ein Wiedertäufer-Anwärter sei im Haus von Knipperdollinck Zeuge geworden, wie sich Jan van Leyden nachts zu dessen Magd und in ihr Bett schlich. Dieser Skandal hätte seine Moralheuchelei enttarnt. Dem Wiedertäuferkönig war klar, dass sich sein Sexabenteuer im Nu durch Tratsch verbreiten würde - und trat die Flucht nach vorn an, indem er den Seitensprung durch die angeblich gottgewollte Vielehe („Kein Same soll verschwendet werden!“) legitimierte.

Zank ohne Ende

Doch der smarte Oberwiedertäufer ahnte nicht, was er auslöste! Laut Chronisten führte die Verkündung zu einer furchtbaren Vergewaltigungsorgie, der auch minderjährige Mädchen zum Opfer fielen. Nach tagelangen schrecklichen Szenen griff das Wiedertäufer-Regime ein und lenkte das neue Ehewesen in halbwegs zivilisierte Bahnen. Doch das System funktionierte nicht, da es in den Mehrehen permanenten Eifersuchtszank gab. Entnervt von Klagen, ließ die Leyden-Administration schließlich ein Scheidungsrecht für Frauen zu.

Utopie oder Terror

Fischer widmet sich auch der Rezeptionsgeschichte des Täufer-Gottesstaates: Für manche Linke waren sie Proto-Sozialisten, für Konservative eher Anarcho-Terroristen. Die Nationalsozialisten konnten sich nie entscheiden: Frühkommunisten - oder Verbündete im Kampf gegen die Kirche? Im Roman Bockelson von 1937 wird das Täuferreich zwischen den Zeilen zur Allegorie des NS-Regimes.

Der Autor schafft es insgesamt, sich von den gängigen Erzählungen und Urteilen zu lösen und beschreibt die Vorgänge ohne Tendenz. Dabei schöpft er tief aus den vorhandenen Quellen. Wer bisher dachte, die Geschichte der Wiedertäufer schon in- und auswendig zu kennen, findet hier noch neue und teils überraschende Aspekte. Also: absolute Leseempfehlung!

Noch mehr Fakten

>> Bischof Waldeck war keineswegs ein „Bollwerk des Katholizismus“, sondern hing selbst protestantischen Ideen an und stand stark unter dem Einfluss einer Konkubine.

>> Der Prophet Jan Matthys forderte nach der Machtübernahme öffentlich das Abschlachten aller „Ungläubigen“. Knipperdollinck widersprach und ordnete „nur“ die Vertreibung an. Da Matthys entgegen seiner bekannten Sturheit spontan einwilligte, glaubt Fischer an eine abgesprochene Inszenierung.

>> Über 16.000 holländische Wiedertäufer waren per Schiff unterwegs nach Münster (ins „neue Jerusalem“), um die Stadt von der bischöflichen Belagerung zu entsetzen. Sie wurden allerdings vom kaiserlichen Statthalter Georg Schenck von Tautenburg vernichtet.

>> In den 33 Statuten seiner „Ordnung des weltlichen Regiments“ im neuen Israel (Münster) verfügte der Ältestenrat, dass „Gemütskranke“ stets ausreichend Wein bekommen sollen.

>> Während der Täuferherrschaft wurden kaum Kinder gezeugt und geboren. Es entbanden nur Frauen, die schon vorher schwanger waren.

Cancel die Käfige?

Vielfach vergessen wird der kolossale kunsthistorische Schaden, den die tobsüchtige Bilderstürmerei der Täufer in Münster angerichtet hat. Allein der Verlust an Aufzeichnungen und Dokumenten ist für die Geschichtsforschung katastrophal.

2017 forderten übrigens irgendwelche hypersensiblen Bedenkenträger, die Käfige wären eine „verstörende Gewaltdarstellung“ und müssten daher abgenommen werden. Wie Heinrich Heine in seinem berühmten Wintermärchen schon andeutete, bieten die Käfige am Lambertiturm noch reichlich Platz für nervige Spinner aller Art...

Carsten Krystofiak

Detlef B. Fischer: Königreich und Gottesstaat. Tredition Verlag 2023, 353 Seiten, TB 14,80, Ebook 9,90 Euro

(aus Ultimo Münster 13/2023)