Die Jünger des Kokoskultes
Nackte, Nüsse &
zuviel Sonne:
Münsters Historiker Sebastian Huncke
ist den ersten
Hippie-Aussteigern auf der Spur
Münsters Science-Slam hat längst Kult-Charakter erreicht, spätestens nach dem großen Erfolg der XXL-Ausgabe im Jovel. Für alle, die wegen des Andranges keinen Einlass mehr fanden, stellen wir ein Highlight der Wettbewerbsbeiträge hier ausführlicher vor.
Die Science-Slam-Veranstalter hatten einen originellen Blumenstrauß wissenschaftlicher Themen zusammengestellt - zur Erinnerung: Es geht darum, komplexe Forschungsthemen aus allen Fachbereichen kompakt, populär und lustig zu performen. Zum Beispiel drei alternative und völlig neue Thesen zur Erdgeschichte, die Astronom Matthias Stahnke vortrug.
Science-Slam bizarr
Das mit Abstand abgefahrenste Thema des Science-Slam Münster hatte allerdings Historiker Sebastian Huncke auf Lager: Die Geschichte des Kokovorismus - oder wie Uropa die erste Hippie-WG erfand. Der Doktorand untersuchte in seiner Examensarbeit die Kokosnuss-Religion des Aussteigers August Engelhardt von 1902 (!) - inkl. FKK und freier Liebe. Wer sagt denn, dass Geschichte trocken und langweilig wäre...
Vor rund 30 Jahren entdeckte ein Briefmarkensammler auf einer Auktion eine skurrile Postkarte aus dem Kaiserreich. Auf der Rückseite steht „Wir leben hier permanent nackt und genießen fast nur Früchte, vor allem die heilige Kokosnuss. Grüße zum neuen Jahr 1905!“ Der Absender hießt August Engelhardt. Abgeschickt wurde die Karte von der Insel Kabakon im Bismarck-Archipel. Kaiser Wilhelm II hatte die Inselgruppe als Kolonie übernommen. Heute heißt sie Papua-Neuguinea. Der Briefmarkensammler war fasziniert und recherchierte die Geschichte einer ebenso vergessenen, wie bizarren Sekte. Das Institut für Kolonialgeschichte der Uni Bayreuth nennt den Gründer Engelhardt den „ersten deutschen Hippie“.
Immer nur Ärger
Engelhardt wird 1877 in Nürnberg geboren. Es ist die Zeit der Industrialisierung. Aber der rebellische junge Mann hat für Schlote, Eisenbahnen und Mietskasernen nur Verachtung übrig. Er schließt sich diversen Reformvereinen an, die gesunde Ernährung und Lebensweise propagieren. Schließlich tritt er in den Jungborn ein. Ein Verein für naturnahes Leben, Vegetarismus und Nacktheit...
Dummerweise verursacht der praktizierte Nudismus immer wieder Zusammenstöße mit irritierten Passanten. Das gibt Ärger mit der Justiz. Die textilfreien Naturfreunde müssen ihren Verein auflösen. Das bewegt Engelhardt, einen Freiraum für seine FKK-Leidenschaft zu suchen. Dabei stößt er auf ein Pamphlet, dass in den USA verfasst wurde: Es ist das Manifest des Kokovorismus. Die kokovoristische Lehre ist ebenso simpel wie ungewöhnlich: Durch konsequente Nacktheit und den ausschließlichen Verzehr von Kokosnüssen verwandelt sich der Mensch in ein Lichtwesen, das sich bald nur noch von Sonnenstrahlen ernähren kann.
Die Südsee-Sekte
Engelhardt ist begeistert! Mit dem befreundeten Schriftsteller Bethmann verfasst er sogleich ein Buch über den Kokos-Kult und erweitert das Prinzip um eigene Ideen: Die Kokosnuss sei die ideale Nahrung, weil sie am höchsten, und damit am nächsten an Sonne wächst; die Sonne wiederum ist die Quelle allen Lebens. Wer permanent Kokosnüsse verzehrt, tankt also reine Sonnenenergie. Soweit mitgekommen?
Wer Kokosnüsse gratis will, muss dorthin, wo sie wachsen. Enthusiastisch reist der 24jährige in die Südsee und kauft von einer amerikanischen Plantagenbesitzerin eine 75 Hektar große Kokosnussfarm auf der kleinen Insel Kabakon. Endlich Kokosnüsse, Sonne und keine Nachbarn, die sich über Nacktheit aufregen. Herrlich!
Fluchtpunkt Kabakon
Nur etwas langweilig ist es, so alleine. Also schreibt er fleißig Briefe nach Deutschland: „Kommt, Freunde!“, lässt Werbebroschüren verbreiten. Der Sonnenorden verspricht ein paradiesisches Leben. Die Reklame hat Erfolg: Bald trifft der Vegetarier Heinrich Aueckens aus Helgoland ein, dann der zivilisationsmüde Star-Dirigent Max Lützow. In Deutschland erscheint ein Artikel des Promi-Musikers in der Reform-Zeitschrift Vegetarische Warte: „Unser Unternehmen ist kommunistisch... Ich bin geradezu entzückt und hätte nicht gedacht, dass es überhaupt einen Platz auf der Erde gäbe, der alle Anforderungen meines Ideals so vollkommen befriedigt.“ Der Bericht sorgt für Aufmerksamkeit. Schließlich finden sich rund 30 Aussteiger auf Kabakon ein.
Mord & freie Liebe
Doch es gibt bald Knatsch. Die „freie Liebe" sorgt schnell für Rivalitäten. Nach nur sechs Wochen ist der Helgoländer tot! Todesursache unklar. Science-Slammer Huncke: „Unter den ungeklärten Todesfällen war mindestens ein Mord.“
Nicht nur Eifersucht setzt den Kommunarden zu: Lützow erkrankt und stirbt auf dem Weg ins Hospital. Engelhardts Sektenmitglieder haben von der Realität die Nase voll und desertieren. Alarmiert durch deren Berichte, eilen Freund Bethmann und dessen Verlobte nach Kabakon. Hocherfreut erläuterte der Guru ihnen seine neuesten Kokos-philosophischen Erkenntnisse: Das edelste Organ des Menschen sei das Gehirn, da es sich der Sonne am nächsten befinde. Das Hirn beziehe seine Energie aus den Haarwurzeln, die ihrerseits vom Sonnenlicht ernährt würden. Daher sei das Tragen jeglicher Kopfbedeckung schädlich!
Das FKK-Weltreich
Doch Sonne und Kokosnüsse hatten Engelhardt nicht gerade gutgetan. Das Paar ist entsetzt über seinen Zustand: Er wog nur noch 39 Kilo und war am gesamten Körper von Krätze befallen. Mit gutem Zureden schaffen sie ihn ins Krankenhaus der größten Nachbarinsel. Dort meint er, dass mit dem Eiter seiner Geschwüre „nun endlich die letzten krankhaften Substanzen seinen Körper verlassen hätten, die bislang noch verhindert hätten, dass er sich in ein ätherisches Wesen verwandelt.“ Um dies schleunigst nachzuholen, flieht er aus dem Hospital zurück nach Kabakon.
Dort lief er nochmal zur Hochform auf und textete neue Werbeanzeigen: „Ich fordere alle Fruktivoren und Freunde der naturgemäßen Lebensweise auf, mitzuwirken bei der Gründung des fruktivorischen Weltreichs. Das internationale tropische Kolonialreich des Fruktivorismus, des Nudismus und der Sonnenverehrung soll den gesamten Pazifik, Südamerika, Südostasien und Zentralafrika umfassen.“ Die deutsche Kolonialverwaltung reagierte darauf mit der Sperrung der Insel für Neuansiedler.
Das Ende der Fruktis
Auch Bethmann und seiner Verlobten wurde Engelhardt unheimlich. Bei Bethmanns Ankündigung der Abreise kam es zum heftigen Streit. Seine Verlobte reiste allein - Bethmann wurde vor der Abfahrt tot aufgefunden.
Ab 1909 fungierte Engelhardt nur noch als kuriose Touristenattraktion. Zehn Jahre später starb er völlig entkräftet. Sein „Kokosevangelium“ liegt im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Generationen von Kommunen hätten sich unzählige Plenum-Nächte und Dauerdiskussionen ersparen können, wenn sie es gelesen hätten...
Carsten Krystofiak
(aus Ultimo Münster 19/2011)