Gisbert Strotdrees ist Redakteur des Landwirtschaftlichen Wochenblattes. Seit langem untersucht er die Geschichte jüdischer Bauern in Westfalen. Trotz des antisemitischen Klischees, dass Juden angeblich von Natur aus Nomaden seien und keine Schollenverbundenheit besäßen, gab es in Westfalen vielfältiges jüdisches Landleben. Auf ein besonders bizarres Kapitel stieß Strotdrees in Westerkappeln: Den Kibbuz Westerbeck, der von 1934 bis Ende 1938 bestand. Ein jüdischer Kibbuz im Nazireich? Im Münsterland? Genau - die erstaunliche Story beginnt 1932...
Die Stern-Brüder
Hitler ist nur noch ein Jahr von der Macht entfernt, da erwerben die jüdischen Brüder Rudolf und Leon Stern das Bauerngut Westerbeck bei Westerkappeln bei einer Zwangsversteigerung. Der Bauer hatte während der Weltwirtschaftskrise aufgeben müssen. Doch aus der Bewirtschaftung wird nichts: Kurz darauf beginnt die antisemitische Staatsdoktrin alle Ebenen zu durchdringen - Juden wird die Landwirtschaft verboten. Die Nationalsozialisten drehen die Schraube der Schikanen immer enger, um die deutschen Juden zur Auswanderung zu zwingen. Doch das Auswandern wurde immer schwieriger: Auf der traurig-berühmten Konferenz von Evian war keines der 50 teilnehmenden Länder bereit, Juden aufzunehmen: „Wir würden ja gerne, aber leider...“
Handfest anpacken!
Da haben die Brüder Stern einen Plan: Sie verpachten ihren Hof an den Jüdischen Pfadfinderbund. Und dieser richtet auf dem Gut ein Hachschara-Zentrum ein. „Hachschara“ heißt in etwa Ertüchtigung, Tauglichmachen. Damit war eine berufliche Umstrukturierung gemeint. Die Idee der jüdischen Gemeinde war, Jugendliche durch eine Qualifikation in praktischen Berufen (Landwirtschaft, Handwerk, Gartenbau) fit für die Einwanderung in Palästina (damals britisches Mandatsgebiet) zu machen. Die zionistische Gesellschaft hatte weniger Bedarf an Intellektuellen, sondern brauchte vielmehr Menschen, die beim Aufbau handfest anpacken konnten. Und so bezogen 104 motivierte Jugendliche beider Geschlechter den Hof Stern. Sie lernten Hauswirtschaft, Ackerbau, Viehhaltung und alles, was man als Pionier in Palästina mitbringen sollte.
Die Schutzzone
Unter den Nationalsozialisten war das Projekt nicht unumstritten. Den ideologisch orthodoxen NS-Funktionären stieß das Treiben sauer auf. Im August 1935 schrieb die Leitstelle der Staatspolizei in Münster, Urbanstraße 7, an den Landrat von Tecklenburg, dass man „beim Geheimen Staatspolizeiamt Berlin die Auflösung des jüdischen Umschulungslagers im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angeregt habe. Heil Hitler!“
Doch die Forcierung der Emigration war den Nazis wohl wichtiger als die eigene Ideologie - die Bewohner von Hof Stern blieben zumindest unmittelbar unbehelligt. Durch die Duldung wurde das Gut zur Schutzzone mitten in der Bedrohung durch Terror und Willkür.
Backen & Sport
Die Teilnehmer kamen von überall: Aus Berlin, Leipzig, Düsseldorf, dem Ruhrgebiet und dem Münsterland. Neben der landwirtschaftlichen oder handwerklichen Arbeit lernten sie zionistische Lieder und jüdische Geschichte. Ungewöhnlich: Auch die Jungs mussten Kochen und Hauswirtschaft lernen! Neben Melken, Backen und Ernten stand auch reichlich Sport auf dem Programm. Die Arbeit wirkte auch als Motivationstraining: Die Jugendlichen vergaßen erlebte Einschüchterung und Gewalt und tankten neues Selbstbewusstsein. Ihr Idealismus sollte die Bildung einer neuen jüdischen Nation in Palästina befeuern.
Das Ende...
Doch dann verübte ein gewisser Herschel Grynszpan ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten in Paris. Viele Juden im Reich flüsterten: „Wenn der bloß nicht stirbt...“, weil sie ahnten, was dann folgen würde. Sie hatten Recht: Das NS-Regime nutzte die Gelegenheit zur Inszenierung ,,spontaner“ Krawalle. Die lokalen SA-Einheiten erhielten die Anweisung, nicht in Uniform, sondern in Zivil zu marodieren. In der Nacht des 9. November 1938 fielen nationalsozialistische Horden über Westerbeck her...
Doch zum Glück hatte der Großteil der Hachschara-Absolventen das Anwesen bereits verlassen. Die Schläger fanden nur noch vier Jugendliche und das Verwalter-Ehepaar vor. Diese wurden brutal misshandelt und verschleppt, sie starben in Konzentrationslagern. Der Hof Westerbeck wurde „arisiert“, die Brüder Stern im KZ Buchenwald mit Drohungen gezwungen, zu einem Witzpreis zu verkaufen. Der Kauferlös wurde als „Judenvermögensabgabe“ vom Finanzamt vollständig einkassiert. Die NS-Kreisbauernschaft gliederte den Betrieb ein.
Den Zuschlag für Gut plus 31 Hektar Boden erhielt ein Bauer Pöppelwerth, der zuvor selbst von seinem Hof in der Senne bei Bielefeld vertrieben worden war, weil die Wehrmacht sein Land für die Erweiterung des Truppenübungsplatzes beanspruchte.
Alles ungültig!
Zehn „Westerbecker“ starben im KZ Stutthof, in den Ghettos von Minsk und Warschau sowie in Sobibor und Auschwitz. Die Bewohner, die sich retten konnten, fanden in Israel oder den USA eine neue Heimat. Manche machten sogar Karriere, wie etwa Kurth Nathan, der in New Jersey Professor für Agrarwissenschaft wurde. Auch Rudolf Stern überstand Nationalsozialismus und Krieg. Er kehrte heim und forderte seinen Hof zurück. 1952 erklärte das Landgericht Münster die Enteignung für ungültig. Der Prozess war als Präzedenzfall ein brisantes Politikum. Pöppelwerth und Stern einigten sich außergerichtlich auf eine angemessene Entschädigung.
Familie Pöppelwerth hatte Jahrzehnte von der ganzen Geschichte keine Kenntnis. Bis Strotdrees die alten Akten fand. Der Hof steht noch heute.
Carsten Krystofiak
(aus Ultimo Münster 26/2022)