WESTERN

Wie man Liberty Valance nicht erschoss

Eine Geschichte des Westerns und des Westens

Vieles war ganz anders. Billy The Kid war kein schießwütiger Desperado, sondern ein netter junger Mann, von dem ein Zeitgenosse sagt, er sei immer mit einem Buch von so einem komischen Engländer unterm Arm rumgelaufen, Karl Marx oder so. Wyatt Earp hingegen war nichts weiter als ein unbeliebter Kleinganove, der, als die großen Helden tot waren, einen cleveren Biografen fand, dem er dann all seine Heldentaten erzählen konnte (unter anderem, daß er Marshall gewesen sei, was Earp zeit seines Lebens nie war).
Das Buch Der Stoff, aus dem die Western sind behandelt aber nicht nur Biografien und ihre Darstellung in den Medien. Es ist eine recht akkurate Geschichte des Westens, von 1540 bis 1894, eine Geschichte der Gaunereien und großer Taten, schändlicher Betrügereien und großherziger Gesten. Und es ist die Geschichte einer andauernden Vernichtung. Wohin der weiße Mann auch kam, mußte er all das, was er vorfand, umstellen, umpflügen, umgraben, ausbeuten. Und wo die Ureinwohner im Wege standen - und das taten sie eigentlich überall - wurden sie mit einer Rücksichtslosigkeit vertrieben, vernichtet und massakriert, die wohl weniger "typisch amerikanisch" als "typisch europäisch" zu nennen ist; schließlich kam jene Art von Zivilisation, die sich da ausbreiten sollte, aus der Alten Welt.
Was nicht heißt, daß man in der Neuen Welt nicht auch ein paar pfiffige Ideen hatte. Etwa den "Vertreibungsakt", ein in der Rechtsgeschichte einmaliges Dokument, verabschiedet vom Kongreß unter Präsident Andrew Jackson, das alle Versprechungen, Zusagen und natürlichen Rechte jener, "die sich Indianer" nennen, für null und nichtig erklärte.
Das alles gesammelt, nach Jahren geordnet, mit Filmografien versehen (jeweils zum Thema, also: welche Western handeln vom Pony Express, welche von Billy The Kid etc.) hat das der verstorbene Filmkritiker Joe Hembus, der damit sein inzwischen legendäres "Western Lexikon" ergänzen wollte, was ihm glänzend gelungen ist. Denn vor allem ist sein Stoff-Sammlung ein faszinierend und klug geschriebenes Geschichtsbuch, das sich ungeheuer locker an allen Konventionen vorbeibewegt und doch kenntnisreich is tund immer wieder verblüfft. Wer weiß denn schon, daß der mythenverzerrte Kavalerie-Knallkopf Custer bereist von der Army wegen zahlreicher Delikte disziplinarisch belangt worden war und nur wegen Intervention von ganz oben sein Kommando behielt?
Warum das wichtig ist? Weil der Western bei uns fast ausschließlich über das Medium Film bekannt ist, das ihn verklärt, verzerrt, verfälscht - und manchmal, ohne daß wir es merken, viel mehr Wahrheit enthält, als wir vermuten (der schnurrige John Wayne-Krawall-Film "Chisum" ist zum Beispiel recht authentisch; wer hätte das gedacht?). Und zu Film und Western hatte Hembus voller Leidenschaft viel zu sagen.
Thomas Friedrich
Joe Hembus: Der Stoff, aus dem die Western sind. Die Geschichte des Wilden Westens 1540-1894. Chronologie, Mythologie, Filmografie Heyne Verlag München 1996, Heyne Sachbuch Nr. 487, 672 S., 29,90 DM ISBN: 345311776X