SCHARLIE

Ein ganzer Karl

Es gibt einen neuen Karl May Roman, mit einem Winnetou wie es ihn nie gab. Und eine Biografie

Natürlich ist dieser Roman nicht wirklich neu - es hat ihn nur seit 100 Jahren keiner mehr gelesen. Und daß will bei May was heißen, wie alle wissen, die uns regelmäßig lesen. Wer aber erst jetzt erfährt, daß so unterschiedliche Leute wie Ernst Bloch und Adolf Hitler, Arno Schmidt und Wiglaf Droste Interessantes an dem schlesischen Trickbetrüger fanden - der muß Winnetou und der Scout eben bloß als spannenden "Western von gestern" lesen. Für die happier few ist es dazu noch eine Entdeckung.
May schrieb den "Scout" als Zeitschriften-Fortsetzungs-Roman Jahre vor "Winnetou 1". Jahre später arbeitete er Teile der Handlung (ein Proto-Shatterhand jagt mit Old Death als eigentlichem Autor-Alter-Ego einen gemütskranken Dichter durchs TexMex-Gebiet) in "Winnetou 2" ein. Hier aber haben wir edle Wilde, bemühte Greenhorns, nette Haudegen und verschlagene Gauner im Rohzustand, noch ohne die Gedankenblässe des späteren Groß-Mystikers, noch ohne die quälenden Landschaftsbeschreibungen des mittleren Verdrängungs-Phantasten, dafür aber mit serial-typischen Tempi und Aktionsbögen.
Jetzt würden wir nur gern noch wissen, was gestandene May-er (Wollschläger etwa, Greno, Haffmans, meinetwegen auch die Prozeßhanseln von den für die Jugend verstümmelten "grünen Bänden") davon halten, daß ein nahezu verschollener Groschen-Heft-Roman Mays jetzt als richtiges Buch herauskommt - und wie sehr und wohin die bisher maymäßig unbekannten Herausgeber (ein Ingenieur und ein freier Schriftsteller, tz tz) ihn "bearbeitet haben". Wenn wir's herauskriegen, sagen wir's weiter. Bis dahin: Selberlesen macht Spaß.

Die Bio

Erneut: May. Muß das sein? Natürlich nicht. Und dann noch per Untertitel als "Popstar aus Sachsen"? Oh weh. Aber weil sein berühmtestes Kind, Winnetou, gerade 100 geworden ist, darf Klaus Farin das doch. Auch wenn er allzuglatt die vermeintlichen may-mässigen Paradoxa repetiert (Ernst Bloch: "revolutionär gut", Klaus Mann "Das Dritte Reich ist Mays Triumph"), sich schludernd von "richtig out war er nie" zu "auch im Westen kaum erhältlich" essayiert, in 33 Zeilen. Aber mit Klaus Karl lesen heißt, viele dicke Bücher nicht lesen zu müssen. Heißt, nicht mit Anmerkungen, Zitatnachweisen, ungeklärten Fragen belästigt zu werden. Heißt, flotte Anachronismen über den "proletarischen Underdog", schön bescheuerte Nebensatzhüpfer von "der Villa Shatterhand wie ein halbes Jahhrundert später in Graceland" übersehen zu müssen. Heißt vor allem aber, nicht auf die Farin-Prämisse, May sei heute populär, hereinfallen zu dürfen.
Mitnichten nämlich, sage ich, faszinieren uns Orientierungslose Mays abgeklärte Befreiungsfantasien, nicht finden wir in Mays Flucht in Lüge und Abenteuer unsere ersatzerfüllten Träume wieder - die Postmoderne viel mehr als die Postpubertät macht das Interesse. Und beschränkt es zugleich. Haffmans löbliche O-Text-Ausgabe steckt wegen so einer Fehleinschätzung bis zum Hals im Treibsand fest. Das einzig Spannende an der heutigen May-Rezeption (von den schlichten Wühltisch-Alleslesern abgesehen) ist der sie erst ermöglichende doppelte Auto-Fake der Extrem-Intelellen, sich erst in den Zustand unreflektierter Unschuld zurückzuphantasieren, und dann im Shatterhandumdrehen wieder aus den Ersatzproblemen hinaus. Wenn überhaupt, ist May so ein Post-Pop-Star für Leute, die auf komplizierteren Täuschungsstoff zum eigenen Unglück längst nicht mehr hereinfallen.
Farin gehört nicht dazu, aber das merkt man seinem Büchlein immerhin an. Mithin muß man es zu lesen wissen, wie Ben Nemsi halbverwitterte Tempelinschriften, oder Arno Schmidt Karl May. Man muß Frechheiten ertragen wie "hier irrte Arno Schmidt" und schnurrige Fan-heiten wie die Erinnerungen von Peggy Parnass oder Wiglaf Droste an ihre May-Days. Aber man kann auch auf ein paar Seiten etwas erfahren zum Status Mays im Dritten Reich und in der DDR. Das lehrt ein bißchen über die taktischen Verspannungen jeder literaturwissenschaftlichen Diskussion. Insgesamt: naja. Muß man nicht lesen, darf man auf keinen Fall irgendwo zitieren, kann man aber gut zum Selbsttest nutzen, ob man ein May-Fan werden möchte.
WING
Karl May: Winnetou und der Scout Ein verschollener Roman, erstmals als Buch veröffentlicht. Herausgegeben und bearbeitet von S.C. Augustin und Walter Hansen. Nymphenburger/F.A: Herbig, München 1995, 463 S. ISBN: 3485007242
Klaus Farin: Karl May. Ein Popstar aus Sachsen Tilsner Verlag, München 1993, 160 S., 18.- DM ISBN: 3910079504