KINO
René & Rolf Zwei verschiedene Film-Geschichten Ein Wunder: ein Buch mit Aufsätzen vorwiegend aus den Jahren 1922 bis 1935, 1952 mit einem leicht kokett die fehlenden Aktualisierungen entschuldigenden Vorwort versehen, ist heute so modern wie je. Allein schon René Clairs Schluß-Skizze "Wie ein Film entsteht" ist klarer und kritischer als jeder heutige VHS-Kurs (Die Rolle des Produzenten, der Regisseur zwischen Autor und Heuer-Mann ...); und das Eingangs-Interview des alternden Routiniers mit sich selbst als jungem Wilden sollte man evtl. in Fortsetzungen auf die Rückseiten unserer Kino-Karten drucken. Wie da einer echten Rausch und ausgedachte Avantgarde, marktgestählte Profinesse und lächelnde Erinnerung an den Aufbruch in Unschuld zusammenbringt, das hat nicht seinesgleichen. Außer eben sich selbst. Nur ganz selten muß der Clair von 1950 den von 1925 korrigieren, nirgendwo muß sich der treffenden Jung-Prophet vom erfahrenen älteren Ego loben lassen - das kann sich jeder Leser selber denken. Nur eins noch: René Clair ist von den frühen Dreissigern bis heute der einzige Künstler und Intellektuelle geblieben, der trotzdem wußte, daß das Kino nicht mit der ersten bezahlten Vorführung der Lumière-Brüder geboren wurde (damit wird das laufende Jubiläums-Jahr begründet), sondern erst Wochen später mit dem ersten Besuch des Jahrmarktzauberers Méliès bei ihnen. Außerdem war Clair auch noch der erste, der sich vorstellen konnte, daß es dermaleinst Film und Kino nicht mehr geben werde. Aus dieser Haltung, und ausdrücklich für Leser, die seinen Aufsatzband im Jahre 2451 in einem Antiquariat finden könnten (Antiquariate wird es, können wir heute sagen, geben, auch wenn die Videotheken längst den Weg der Leihbüchereien gegangen sind), schrieb er die beste Filmgeschichte der zweiten 25 Jahre, die sich auf 205 Seiten unterbringen läßt. Sex "Sex ohne Liebe ist wie Laurel ohne Hardy", sagt der Autor am Ende, ohne sich auf die Reihenfolge nageln lassen zu wollen. Kurz davor besteht er auf einem neuen Bedarf an filmischer Aufklärung (nämlich über AIDS) - und am Anfang erzählt er ausführlich, daß er mal eine Schreibhemmung hatte, sich zur Behandlung seiner Trennungs-Depri zum Hypnotherapeuthen ausbilden ließ (so sagte schon mein Linguistik-Professor: wenn ich was wissen will, halte ich eine Vorlesung darüber, aber wir schweifen ab), und wie das ZDF aus seinem 93er Filmforum zum Aufklärungsfilm den einzigen "erigierten Schwanz" (Stilfehler) herausschnitt. Dann kriegen wir noch Dönekes von Thissens Guru, weiteres aus dem Tagebuch, Charakterkunde, Lob der Freunde ... erst im vierten Kapitel geht das Buch richtig los - und enthält dann haufenweise Szenenbeschreibungen, Fotos, Umfeld-Texte aus beinahe 80 Jahren deutscher Film-Aufklärung, einschließlich der Ostgebiete. Ziemlich vollständig und erfreulicherweise nur in Einschüben, nicht in der Darstellung selbst, gewertet. Für diesen fetten Daten-Happen schluckt man die darin herumwimmelnden Kröten aus Thissens Psycho-Historie eben mit. Mit sehr langen Zähnen, auch wenn sein Poonjaji nicht dümmer ist als meinetwegen Winnie Pooh. Das Register aber ist gut. Und daß Thissens Aufklärungsfilmgeschichte mit dem 93er "Sex - Lust und Leben"-Dreier-Set von Atlas-Video ihren Höhepunkt hat (äh - ich hab' den verliehen, würde die entsprechende ihn bitte wiedergeben, danke) ist löblich und korrekt gesehen, wenn auch nicht befriedigend. Nichtmal für Thissen. Weil der Humor fehlt. WING
René Clair: Kino - Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920 - 1950. Diogenes Verlag, Zürich, 205 S., 39.- DM | Rolf Thissen: Sex Verklärt - Der deutsche Aufklärungsfilm Heyne Verlag, München, 368 S., 19.90 DM |