ERINNERUNG

Der tote Freund

Julian Barnes »Vom Ende einer Geschichte« erzählt von den Lügen, die wir uns über uns selbst erzählen

Selige Jugend. Der Erzähler Tony Webster erinnert sich an seine Freunde aus den 60ern und ihre gemeinsame Schulzeit, als weder Internet noch SMS oder gar Frauen im Wege standen, um junge Engländer auf das kommende Leben vorzubereiten. Der Tonfall des Erzählers ist mokant, witzig, altersweise. "Die 60er", schreibt er einmal, "oder das, was man von ihnen annimmt, fanden eigentlich erst in den 70ern statt". Die 60er waren vorwiegend ein Kampf gegen die 50er.

Tony Webster und seine drei Freunde erleben nichts Besonderes. Ihre Clique ist nicht anders als andere von selbstbewusst Pubertierenden, die meinen, die Welt in der Tasche zu haben. Wir fühlten uns in der Schule wie in einem Pferch, schreibt Tony, darauf wartend, in die wirkliche weite Welt entlassen zu werden. Tony findet eine Freundin, sie trennen sich wieder, einer von Tonys Freunden begeht Selbstmord. Damit endet der erste Teil von Vom Ende einer Geschichte.

Der zweite Teil spielt in der Gegenwart. Tony erhält Post von einer Anwaltskanzlei und erfährt, dass er etwas geerbt hat. Dass er deshalb Kontakt zu einer alten Freundin aufnehmen muss, führt dazu, dass Tony noch einmal über seine Jugend nachdenkt und überlegt, was damals eigentlich wirklich passiert ist. Der Tonfall in diesem zweiten Teil des Romans ist getragener, trauriger. Und gemeinsam mit Tony lernen wir, dass Erinnerungen einen manchmal ganz schön hereinlegen können.

Im ersten Teil verkleidete sich das Thema hinter der Fragestellung von Tonys Geschichtslehrer, der am Ende der Schulzeit die Frage in den Raum warf, was eigentlich "Geschichte" sei. Tony hatte damals "nassforsch", wie er heute zugibt, geantwortet, Geschichte sei "die Summe der Lügen der Sieger". Und der Lehrer hatte geantwortet: "Ja, ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Nun gut, solange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist."

Und während Tony im ersten Teil des Romans mit dieser Antwort spielerisch umgeht (er kokettiert damit, sich an vieles nicht mehr richtig zu erinnern), wird die Summe der Selbsttäuschungen im Alter über ihn hereinbrechen. Und Tony Webster wird nichts anderes bleiben als Scham und Reue für das, was er getan hat. Und was er sein halbes Leben lang verdrängt hat.

Julian Barnes pflegt eher den unterhaltenden und anspielungsreichen Ton des Flaneurs, als den ernsthaften Duktus eines Enthüllers. Auch deshalb wirkt The sense of an ending (Originaltitel) viel dramatischer, wenn erst auf den letzten Seiten klar wird, was und wer Tony Webster ist und wie wir uns unser Leben in der Erinnerung zurechtlegen - und lügen.

Barnes bekam dafür 2011 den Booker Prize.

Thomas Friedrich
Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 182 S., 18,99