ANTHROPOLOGIE

Traurige Tropen

Levi-Strauss fotografiert Indianer

"Kulturell enteignet und der Werte beraubt, denen wir uns verbunden fühlten - Reinheit von Wasser und Luft, Wohltaten der Natur, Vielzahl und Verschiedenheit der Tier- und Pflanzenarten -, sind wir, fortan allesamt Indianer, im Begriff uns selbst zu dem zu machen, was wir aus ihnen gemacht haben" - schreibt Claude Lévi-Strauss im Vorwort seines Bildbandes Brasilianisches Album. Das enthält 180 Bilder von abertausenden, die der Anthropologe 1935-1939 in Südamerika, hauptsächlich in Brasilien, machte. "Nicht als Photograph", wie er sich im Vorwort selbst unterschätzt, sondern, wie Szene-Gänger heute das wohl sähen, als Lumograph. Lévi-Strauss notierte damals bloß bei Gelegenheit, mit einer Standard-Kamera, und nur wie Krizzel zu der eigentlichen Arbeit (an dem berühmten Bericht Traurige Tropen).
Und was sehen wir heute: eine versunkene Welt - die ersten Hochhäuser in Sao Paolo (1935 knapp 1 Million Einwohner, 1995 schon über 15) und die letzten Curare-Kocher in Urwald der Nambikwara - einerseits Schnappschüse von einer Expedition ins Innere der Finsternis ("hier fiel unser Jeep um") und andererseits als Ergebnis der "nüchternen und sensiblen Beobachtung" (wie der Klappentext völlig korrekt lobt) Menschen, wundervolle, moderne Menschen, mitten im Wald, nackt, auf der Erde schlafend, die Tukane mit der bloßen Hand einfangen konnten.
Damals wurden sie als kuriose Überlebende aus der Steinzeit mißverstanden (Strauss' Studien taten viel dagegen), heute sind ihre Stämme nahezu ausgerottet. Statt Vorfahren gewesen zu sein, gehen sie uns möglicherweise nur ein kleines Stück voraus. Und dieser Bildband ist ihr Grabstein, groß und schwer und dauernd. Und überhaupt nicht kitschig. Sondern nachweislich anrührend sowohl für Leute, die das Brasilien von heute kennen, als auch für uns Zuhausehocker. Wenn jemand völlig unpathetisch das Herz der Erde pochen fühlen will, soll er dieses Buch anfassen. Und hineinsehen. Immer wieder.
WING
Claude Lévi-Strauss: Brasilianisches Album Hanser Verlag, München 1995, 223 S.