ZEITFEHLER
Kaiserinnen-Schmarren
Die »Jägerin der Zeit« wildert im gefälschten Mittelalter
Seit 10 Jahren etwa gibt es die "Phantomzeit"-These des Privatforschers Heribert Illig. Die besagt im Groben: Etwa 300 Jahre Geschichte, so wie wir sie in der Schule lernten, sind frei erfunden ... alles, was angeblich zwischen 700 und 1000 heutiger Zeitrechnung stattfand, gab es gar nicht.
Das mag ja Blödsinn sein, interessiert uns aber sehr. Schließlich ist bei nahem Hinsehen vieles noch immer bloß Vermutung, was in den Schulbüchern als gesichertes Wissen steht und in historischen Romanen immer wieder neu nacherzählt wird. Nur wenige Autoren trauten sich bisher, am festen Weltbild zu rütteln.
Kathrin Lange hat für ihr Roman-Debüt Jägerin der Zeit das finstere Mittelalter so umerfunden, dass es zur Phantomzeit-These passt. Mit kühnem Wurf denkt sie sich eine Verschwörung fieser Kerle aus Byzanz aus, die am Kalender herumschrauben wollen, um ein herrschafts-erschütterndes Geheimnis zu verdecken. Und mit etwas abgeknickter Verbeugung vor Umberto Eco lässt sie am Ende die Guten, die alles aufdecken, dann doch weiter an der Verschwörung spinnen, weil die kirchengläubige Welt die Wahrheit nicht vertragen würde. Das Konzept ist gut.
Das Personal ist auch nicht schlecht. Faktische und fiktive Personen jagen einander in einer Art Mittelalter-Bond durch Europa, kirchliche Attentäter verlieben sich in Bischofstöchter, kluge Obernonnen fingieren ihre eigene Ermordung, noch klügere Kräuterweiblein wohnen raunend im Wald. Überhaupt die Frauen haben es Kathrin Lange angetan. Von der in der "Normal"-Geschichte meist übergangenen echten deutschen Teilzeit-Kaiserin Theophanu über diverse Mägde bis zu Langes Heldin Sophia, die das Rechnen mit arabischen Zahlen von ihrem Papa lernt, der später Papst wird, kriegt "das Weibliche" parteilich viel Raum.
Leider passt sonst fast nichts zusammen. Das "erste Geheimnis" etwa, das die Story in Bewegung bringen soll, regt keinen groß auf ("300 Jahre erfinden, na gut, wo sollen wir anfangen?"), dafür lässt das "letzte Geheimnis" ("ach, die Reliquie ist falsch?") den Leser kalt. Umgekehrt müht man sich durch gut recherchierte Lektionen in der damals modernen Astronomie und Arithmetik, ohne zu wissen, warum, kriegt aber dafür nicht mal ein hinreichend "fremdes" Zeitgefühl für eine Epoche. Frau Lange berücksichtigt Realien zwar meist penibel, aber ihre Thriller-Story zerdehnt und verdünnt sich dabei. Und die psychologischen Episoden ihrer Charaktere (wen liebe ich, was fühle ich, wo will ich hin im Leben?) wirken all zu heutig dazwischengepappt.
Eine kluge Frau wollte die Geschichte einer klugen Frau erzählen, und ruinierte sie mit zuviel Klügelei. Trotzdem: Heute schreiben so viele Frauen historische Romane nur mit Schulbuch und Poesiealbum als Quelle, dass jeder Versuch ernsthafter Geschichte gelobt werden muss. Übrigens auch dafür, dass Kathrin Lange auf ihrer Homepage "deleted scenes" und andere Extras anbietet, sozusagen die DVD zum Buch. Allerdings frecherdings ohne jeden Hinweis auf Heribert Illig.
WING
Herbert Illig, "Vater der Phantomzeit", teilte uns freundlicherweise mit, dass Kathrin Lange ihn nicht konsultiert habe und dass es schon ein paar Romane gibt, die mit dem erfundenen Mittelalter spielen. Richard Dübell schrieb 1998 Der Jahrtausendkaiser, der gerade als Sonderausgabe bei Bastei wieder erscheint. Hubert vom Venn schrieb 1999 den Aachener Lokalkrimi Kaisermord, in dem Herbert Illig wegen seiner Thesen umgebracht wird. Barbara Frischmuth erwähnte die These 2003 in Die Entschlüsselung. Und soeben brachte Illigs eigener Verlag (Mantis) Das Schwert aus Pergament vom in Münster stadtbekannten Quergeist Werner Thiel heraus. Die "erfundene Zeit" kommt darin zwar nicht vor, aber schön plausibel fingieren aus politischen Gründen Klosterschreiber des 12. Jahrhunderts die Legende vom Bistumsgründer Liudger um 800.
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