ENZYKLOPÄDIE

Wer schreibt hier was?

Digitaler Maoismus: Beim Online-Lexikon »Wikipedia« darf jeder über fast alles schreiben. Warum eigentlich?

Die Online-Enzyklopädie "Wikipedia" ist erst seit wenigen Jahren am Netz und schon das vermutlich längste Lexikon der Welt, jedenfalls der Stichwörterliste nach. Die deutschsprachige Ausgabe des Nachschlagewerks zum Mitmachen ist im weltweiten Wiki-Verbund die zweiterfolgreichste mit einigen tausend regelmäßigen Autoren und etwa 600.000 Artikeln. Günter Schuler schrieb als User "Roger Koslowski" einige davon, ging zu Autoren-Stammtischen und diskutierte fleissig mit, wenn es etwa darum ging, Artikel zu verändern oder zu löschen oder Benutzer auszuschließen, die sich mit rechtslastigen Beiträgen unbeliebt machten.
Der erste Teil von Wikipedia inside erklärt, wie das Projekt funktioniert und aus welchen ideologischen Quellen es sich speist. Die Vorläufer reichen von der europäischen Aufklärung ("Wissen macht frei") bis zur freien Softwarebewegung ("Wissen muss umsonst sein") und zum basisdemokratischen Usenet (jeder muss mitreden können"). So entstand ein Programm, mit dem jeder einfach über alles schreiben, und, jedenfalls im Prinzip, auch jeden umschreiben kann.
Dass dabei viel Unfug ins Netz kommt und einige Fehler lange unentdeckt bleiben, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass der globale Zettelkasten noch nicht im Chaos versunken ist und die meisten Informationen ziemlich gut sind. Schuler erklärt wohlwollend, wie das kommt und dass Wikipedia besser als ihr Ruf ist.
Leider erklärt er nicht, wie sie sich finaziert. Zwar arbeiten die Autoren umsonst (jedenfalls werden sie nicht von Wikipedia bezahlt), aber die Computer, auf denen Wikipedia liegt, kosten Geld. Und je größer der freie Wissenspool wird und je häufiger er angeclickt wird, desto mehr. Nur: wieviel eigentlich? Wer spendet? Und warum?
Dann folgt das Innenleben. Hier wird Schuler weniger wohlwollend. Es gefällt ihm nicht, dass die für normale Nutzer undurchschaubare Wiki-Bürokratie Artikel und Autoren aus dem Netz werfen kann. Und es gefällt ihm noch weniger, dass unter Berufung auf "Neutralität" etwa das Horst Wessel-Lied mit Text und Noten zum Mitsingen drin bleibt. Schuler stört der vage "linke" Ansatz der Idee, das Vertrauen in die Kraft der Masse, der "digitale Maoismus", der nur zu einem Gewährenlassen gegenüber Seilschaften führe.
Wer sich eine Agentur leisten kann, stramme Gesinnungsfreunde zur Mitarbeit motiviert und clever vorsichtig formuliert, kriegt fast jeden Inhalt ins Netz. Die "fortschrittlichen" Kräfte dagegen verzetteln sich in endlosen Diskussionen, die oft wegen persönlicher Unfreundlichkeiten oder angeblicher Irrelevanz entfernt werden.
Aber von wem eigentlich? Wie wird man ein privilegierter Nutzer, der das Umschreiben mitregeln darf? Wer kontrolliert die Kontrolleure? Der Weg zur Verwaltungsmacht des freien Wissens ist kompliziert und wenig basisdemokratisch. Der bloß im Netz mitlesende Wiki-Nutzer stellt sich solche Fragen meist gar nicht, wer aber einmal anfängt, einen Artikel zu editieren, kann schnell ins Kreuzfeuer geraten. Nicht bei "Kampfstern Galactica"-Themen und einfacher Naturwissenschaft, aber bei Kurden, Lesben, Kapitalismus oder der Waffen-SS.
Ausführlich referiert Schuler allerlei Kriege hinter den Kulissen und zog sich damit den Zorn vieler Wikipedianer zu. Vor allem moniert Schuler sexistische, rassistische und militärverherrlichende Tendenzen. Prompt fühlten sich einige Aktive verunglimpft. Andererseits referiert der Wikipedia-Artikel zu Schulers Buch streng neutral, dass es undemokratische Tendenzen im System bemängele. Und verweist dann auf den Blog zum Buch, in dem steht, dass Wikipedia mit Kritik nicht umgehen könne. Ist das repressive Toleranz? Oder ist das System, so sonderbar es an vielen Stellen auch ist, doch klüger als sein Kritiker?
WING
Günter Schuler: Wikipedia inside. Die Online-Enzyklopädie und ihre Community Münster, Unrast 2007, 279 S., 18,- / www.wikipedia-inside.unrast.org