HEXENKRAM Orgien und Intrigen »Wicked« ist das böse Prequel zum braven Oz-Land Dies ist nicht einfach das Buch zum Musical, vom dem gerade alle reden. Schon weil es im Original bereits 1995 erschien, das Singspiel aber erst 2003 auf die Bühne kam und 2007 in Stuttgart Premiere hatte. Wohl wegen der räumlichen Nähe nahm der Stuttgarter Verlag Klett-Cotta das Buch nun in sein Programm. Ob auch die zwei Fortsetzungen dort noch erscheinen, könnte davon abhängen, wie gut und wie lange das Musical läuft. Wicked ist auch kein Kinderbuch, obwohl fast alle Figuren darin auftauchen, die in Amerika so berühmt sind wie hierzulande Rotkäppchen und weltweit mit dem Musical-Film Das zauberhafte Land (von 1939) unsterblich wurden. Bis aber Dorothy mit ihrem Haus aus Kansas geflogen kommt und versehentlich bei der Landung die böse Hexe des Ostens erschlägt, vergehen 436 Seiten. Wicked, eine Art Anti-Kitsch-Märchen, fängt deutlich als Erwachsenen-Erzählung an, mit Sex und Lynchmob, mit Bigotterie und einem politisch zerrissen Oz. Ein grünes Baby mit Verhaltensstörungen wird geboren, und sogar die Wohlmeinende scherzen mit ihm grob herum: "Wollen wir spazieren gehen? Wollen wir in eine Schlucht fallen?". In großen Sprüngen, oft unter rabiater Weglassung ganzer Kriege und wichtiger Handlungswendungen, erzählt Gregory Maguire, wie aus dem hässlichen Entlein ein fieser Möpp wird. Die längste Passage spielt, zwei Jahre bevor J.K. Rowling Harry Potter erstmals nach Hogswarth schickte, auf einer magischen Lehranstalt. Dort lernt der ungelenke grüne Teenager Elphaba (nach den Initialen des echten Oz-Erfinders Lyman Frank Baum) die hochnäsige Glinda kennen, die später die "gute Hexe" werden wird. Hier ist Wicked fast ein Jugendbuch, mit aufrührerischen Reden, gelegentlichen Orgien und einem grausigen Mord. In Oz ist viel im Argen: Wälder werden abgeholzt, Naturvölker massakriert, es gibt religiöse Streitigkeiten und Rassismus. Sprechende Tiere etwa verlieren ihre Bürgerrechte, ein Ziegenbock-Professor wird erstochen. Elphaba geht in den Untergrund, um den neuen, fernen Machthaber, den Zauberer von Oz, zu bekämpfen. Jahre vergehen, viel passiert, und Gregory Maguire verläuft sich ein bisschen zwischen kritischer Fantasy-Saga und komplizierter Familien-Geschichte der Rebellin Elphaba, die stets das Gute will und meist das Böse schafft. Ziemlich zerbrochen nimmt sie am Ende den Namen "böse Hexe des Ostens" an, weil sie in Oz wohl böse sein muss, um dem wirklichen Feind, dem Zauberer, zu widerstehen. Dann kommt Dorothy und das Buch endet etwas holprig auf die bekannte Weise. Amerikaner sehen Wicked zwischen "Alice" und dem Hobbit, aber so zahm ist es nicht. Deutsche dürften es eher zwischen dem echten Grimmschen "Rotkäppchen" und den Nibelungen ansiedeln. Mit mehr Sex und weniger Blut. Wer aber bei Oz nur an Judy Garland denkt, und bei Fantasy nur an Schmöker-Stoff, wird schockiert sein. Das ist doch was Gutes. WING
Gregory Maguire: Wicked. Die Hexen von Oz Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 536 S., 19,90
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