GESCHICHTE
Das Mördervolk »Der lange Weg zum Holocaust« erklärt die Tumbheit der Deutschen über die Jahrhunderte hinweg. Man kann eine - volkommen sinnlose - Debatte darüber führen, ob der deutsche Antisemitismus anisemitischer war als anderswo; wofür was spricht. Man kann auch fragen, ob die industriell organsierte und vom Volke begeistert unterstützte Judenvernichtung so nur in Deutschland möglich war; was ja denkbar ist. Man kann aber auch einfach in die Geschichte zurückgehen und erst einmal genau hinsehen, um was es eigentlich geht. Und dann Fragen stellen. Der amerikanische, nicht-jüdische Historiker John Weiss hat das gemacht. Und ein paar wohlbekannte Tatsachen einfach neu sortiert und bewertet. Im ausgehenden Mittelalter etwa waren Frankreich, Italien und England längst Handelsnationen mit einer starken Tendenz zu Verstädterung. Deutschland hingegen blieb ländlich, provinziell und schollenverbunden. Und wo in den Handelsnationen der Geldverleih eine ökonomisch notwendige Rolle übernahm, blieb er den teutschen Provinzlern und Bauern verdächtig. Italien hatte die Renaissance, England Cromwells Revolte als "Einstieg in die Neuzeit", Deutschland leider nur Martin Luther, der anfangs glaubte, wenn er erst das Christentum ins rechte Licht gerückt habe, würden die Juden ihren "Irrtum" einsehen und reihenweise konvertieren. Als das ausblieb, kannten seine antisemitischen Tiraden keine Grenzen mehr; selbst Hitler, so Weiss, hat die Juden nicht so obszön beschimpft wie Luther. In Frankreich und England sorgten Aufklärer für ein moderates Religionsbild: Locke, Hume, Voltaire, Robespierre, Mirabeau waren zwar keine Freunde der Juden, aber selbst ein wütender Antisemit wie Voltaire forderte die vollen Bürgerrechte für und die Emanzipation der Juden. Und während die Napoleonischen Kriege in halb Europa für das Abreißen der jüdischen Ghettos sorgten und die jüdische Emanzipation wenigstens teilweise ermöglichten, kamen mit der Restauration nach 1815 die deutschen Denker und Philosophen unter ihren Steinen hervorgekrochen und kochten ein seltsames Süppchen aus Rationalität und Mysthizismus. Die Deutschen, so der nationalistische Einfaltspinsel Johann Gotlieb Fichte, seien anderen Völkern überlegen. Und Juden könnten sich nunmal nicht ändern: "Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen alle die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee ist." - das waren Deutschlands hellste Köpfe! Auch Kants "kritische Vernunft" ging baden, wenn es um solche Themen ging; für ihn war "Volkscharakter" eine Frage der "Blutmischung der Menschen". Um die Jahrhundertwende war der deutsche Reichskanzler in Europa einer der letzten, die in Uniform vor ihr Parlament hintraten: nirgendwo sonst im westlichen Europa war das Militär derart verknöchert und in die Staatsgeschäfte verstrickt. Akademische Vereine, Parteien, Militär und Beamtenschaft waren antisemitischer eingestellt als irgendwo sonst in Europa. Eine Dreyfus-Affaire, so Weiss, hätte es in Deutschland schon deshalb nie geben können, weil dort nie ein Jude in den Hauptmanns-Rang befördert wurde. Das Idol der studentischen Jugend war der glühende Antiemit Treitschke ("Die Juden sind unser Unglück"), bei Hofe sorgte der Agitator und Judenhasser Stoecker für den rechten Ton. Und auch der deutsche Kaiser Willhelm II., in jeder Hinsicht ein kleines Licht, wollte "diese Schweine" (Juden & Sozis; sowas war den deutschen Rechten immer eins) am liebsten aus dem Land gejagt oder mindestens "gehenkt" sehen. Weiss' Stärke der Argumentation liegt darin, nachzuweisen, daß der deutsche Antisemitismus - aus welchen Gründen auch immer - hier besser und umfassender organisiert war als irgendwo sonst. Die kurze Phase der Weimarer Republik machte eher alles noch schlimmer: Da konnte man sehen, wohin eine "jüdische Republik" führte! "Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt", schrieben die Kulturkritiker Paul de Lagarde und Julius Langbehn über die Juden in ihren "Deutschen Schriften" im 19. Jahrhundert, "sie werden so rasch und und so gründlich wie möglich vernichtet"; die Nazis verteilen Lagardes und Langbehns Texte an Frontsoldaten. Weiss: "Die Popularität dieser beiden Kulturkritiker läßt ernsthaft an der traditionellen Annahme zweifeln, die deutschen Eliten hätten dem Antisemitismus ablehnend gegenübergestanden." Und genau das machte den Antisemitismus der Nazis so effektiv: Beamte, Militärs, Richter, Künstler, Industrielle - alle wußten, was sie taten und was zu tun war. Weiss' ebenso schlichtes wie brillantes Argument: Hätten die Deutschen wirklich erst nach '45 erfahren, was mit den Juden geschehen war, hätte ein Sturm der Entrüstung durchs Land gehen müssen. Stattdessen sorgten die alten Eliten in alten Positionen dafür, daß jede Nazischweinerei vertuscht wurde, die Mörder (bis heute) ihre staatlichen Pensionen erhalten, während überlebende Opfer (bis heute) auf Entschädigungen warten. Der lange Weg zum Holocaust zeichnet eine schlüssige, nicht zwingende Entwicklung der teutonischen Barbarei. Wie Weiss den Weg beschreibt, mag er da liegen. Daß nämlich die Nazis nicht die "Rassenfrage" benutzte, um "die Deutschen" hinters Licht zu führen. Sondern daß den Nazis jede Frage letztlich eine "Rassenfrage" war, und genau dies machte sie bei unseren Großvätern und -müttern so irre beliebt. Erich Sauer
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John Weiss: Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. Hoffmann & Campe 1997, 544 S., 58,- DM |