GEFÜHLE
Im tiefen Tal der Heulsusen
Tom Lutz hat eine Kulturgeschichte der Tränen geschrieben
@bildzeile = »Der Vorteil von Gefühlen ist, dass sie uns vom Weg abbringen.«
@bildzeile = (Oscar Wilde)
Wann jemand weinen darf und was es bedeutet, hängt stark vom Jahrhundert und den Umständen ab. Der Autor Tom Lutz bringt dafür in seinem Buch Tränen vergiessen ein schönes Beispiel:
Als seinerzeit der heldenhafte Ritter Roland verfrüht ins Gras beißen mußte, heulten Karl der Große und seine Ritter hemmungslos vor sich hin. Im "Rolandslied" heißt es dazu: "Seine edlen Ritter vergießen Tränen; / Zwanzigtausend sinken ohnmächtig zu Boden ..." - Lutz: "Um sich den großen Unterschied zwischen unserer Auffassung vom Weinen und jener von vor 800 Jahren zu vergegenwärtigen, muss man sich nur in einer Filmversion 20.000 weinende und ohnmächtig werdende Ritter vorstellen, die in ihren Rüstungen von den Pferden fallen - vielleicht vermag nur Monty Python ein solches Bild umzusetzen."
Physiologisch ist das Zustandekommen von Tränen und das Weinen erstaunlich unklar. Eine früher angenommene biologische "Reinigungswirkung" wird inzwischen ebenso ausgeschlossen wie die berühmte erlösende, "karthatische" Wirkung für die Psyche, die das Feuchtwerden der Augen angeblich befördere. Lutz: "Wir alle wissen, was es bedeutet, sich nach dem Weinen besser zu fühlen. Doch die meisten von uns wissen auch, dass man sich nach ein paar Gläsern Wein, einem sättigenden Mahl oder dem Rauchen legaler oder illegaler Substanzen ebenfalls besser fühlt. Aber deshalb glauben wir noch lange nicht, dass das unsere geistige Stabiltät und unsere emotionale Gesundheit erhält." Immerhin: dass der Säugling schreit und weint - und das in allen Kulturen -, hat eine gewisse Bedeutung und Funktion ("Hey, Welt, wo bleiben Futter, Wärme & Zuneigung?!"), alles, was später kommt, ist undeutlich.
Der kulturgeschichtliche Bedeutungswandel des Weinens wurde vor allem in den 70ern deutlich, als die Bioenergetiker ihre Schrei- und Wein-Theorien in diverse Therapieformen kleideten. Fortan galt die Heulsuse als Musterbeispiel der Selbstbefreiung. Wer weint, hat Recht. Oder präziser: Wer weint, stellt sich seinen Gefühlen und bewältigt sie. Dass derlei Unfug bis heute nicht bewiesen wurde, versteht sich fast von selbst.
Auch dass Männer öffentlich weinen, ist weniger eine Errungenschaft als meistens ein Trick. Die Autorin Nora Ephron wird von Lutz zitiert: "Man hüte sich vor Männern, die weinen. Es stimmt, dass Männer, die weinen, sensibel und auf Tuchfühlung mit Gefühlen sind, doch die einzigen Gefühle, für die sie empfänglich und mit denen sie auf Tuchfühlung sind, sind ihre eigenen."
Die Wein-Kultur schreitet voran. Wir landen schließlich bei der "Titanic", dem Feucht-Film überhaupt. Immer wieder gehen die Leute in den Film, um zu weinen. In anschließenden Interviews geben sie zu, wie sie das Weinen genießen. Die Tränen der Trauer sind endgültig in der Spaß-Kultur angekommen. Es kann nur besser werden.
Thomas Friedrich
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