MISSBRAUCH
Stand by me Doktor-Spiele und das Ende eines Sommers Unzählige Male hatten sie zusammen gesessen, nackt auf der Matratze, Wurstpellen und Brotkrümel, Eisflecke auf Gesicht und Beinen. Zum Einkaufen gingen sie in den Minicoop an der Hauptstraße, wo sie die Verkäuferinnen auf die Palme brachten, wenn sie ihnen das Kleingeld auf die Theke zählten." Die Kinder-Idylle endet mit Schrecken. Es kann eben nicht gut ausgehen, wenn 10- bis 15Jährige den Sex entdecken. Dabei fängt alles harmlos an. Die Kinder treffen sich in einem Schuppen, wo ihnen der 15jährige Mirko anhand von Pornoheften zeigt, was die Erwachsenen so tun. Und weil alles gar nicht bedrohlich, bestenfalls seltsam aussieht, probieren die Kinder aus, was sie sehen. Von den Kindern weiß man nichts, der erste Roman der jungen Italienierin Simona Vinci, scheint dem kindlichen Blick zu folgen. Die Entdeckung der Geschlechtsteile, der Gerüche, der Körperflüssigkeiten werden ganz naiv geschildert, der 10jährigen Martina erscheint es, als seien die neuen, männlichen Teile des menschlichen Körpers ihr schon immer vertraut gewesen; der erste Schwanz, den sie in der Hand hält, kommt ihr seltsam vertraut vor, wie eine uralte Erinnerung. Nur an solchen mystifizierenden Stellen bemerkt man, daß die Autorin eine Absicht verfolgt und keineswegs unbeschwert von kindlicher Begegnung mit Sex und Pornografie erzählen will. Die anfangs nur anregenden Pornohefte haben nämlich eine Quelle. Diese anonyme erwachsene Quelle, nur Mirko kennt sie, ist böse. Denn sie verändert langsam den Charakter der Porno-Hefte: aus harmlosen Fickfotos wird softer Sadismus, bis schließlich Vergewaltigungen von Kindern zu sehen sind... Wenn erst einmal das Böse in der Welt ist, kann nichts gut enden. Aus den friedvollen und spannungsgeladenen "Doktor- Spielen" wird allmählich etwas ganz anderes, etwas, das mit dem Tod eines der Kinder endet. Weil die Erzählerin konsequent bei der kindlichen Perspektive bleibt, tut das Buch so, als wisse es gar nicht, wie das geschehen konnte. Diese Haltung ist perfide. Sie verrät ihre Protagonisten (die Fühlen und Denken und Sex haben, aber nichts verstehen dürfen) und sie verrät die Geschichte an ein lehrhaftes Ende. Denn die Story ist ja ein Konstrukt. Der Tod ist ein Einfall der Autorin, keine zwangsläufige Folge von Pornografie. Wegen des sanften, kindlichen Tonfalles der Geschichte, könnte man das glatt verwechseln. Victor Lachner
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Simona Vinci: Von den Kindern weiß man nichts. Aus dem Italienischen von Petra Kaiser und Peter Klöss. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, 183 S., 29,80 DM |