Denken Die Pathologie des Erinnerns Warum es gesund ist, dass wir das meiste vergessen Ob Träume heute überhaupt etwas bedeuten, ist ungewiss. Es ist nicht einmal klar, was wir überhaupt träumen. Die "verdrängte Erinnerung", ein Therapeuten-Hit aus den 70ern, der die Praxen füllte, hat sich mittlerweile ebenso als Humbug erwiesen wie die sogenannte Multiple Persönlichkeit. Douwe Draaisma macht in Das Buch des Vergessens eine Reise durch die Wissenschaftsgeschichte und die Erkenntnisstadien über unsere Art, Erinnerung zu organisieren und einzuschätzen. War es früher der "Film", der als Vorbild einer seriellen Erinnerung herhielt, sehen wir uns mittlerweile als "Computer"-Denker, bei denen Erinnerungen und Erfahrung als unveränderliche Bits und Bytes abgelegt wurden. Dabei ist "Erinnerung" ebenso wandelbar wie die Erkenntnisse über sie. Wir wissen oft nicht, woher ein Bild stammt, das in unserem Speicher liegt (haben wir das erlebt oder nur gehört oder als Foto gesehen?). Wir merken uns Emotionen besser als Fakten, und meistens hängt es von der aktuellen Befindlichkeit ab, wie wir uns erinnern. Draaisma verschafft einen Überblick über den Stand der Dinge und wie es dazu kam. Erschütternd ist vor allem sein Kapitel über "Lobotomie", als ebenso ahnungs- wie skrupellose Chirurgen in den Gehirnen ihrer Patienten herumstocherten und irreversible Schäden und meistens keine Heilung bewirkten. Um möglichst schnell an viele Daten zu gelangen, wurde geradezu im Akkord operiert - und verstümmelt. So wie "Erinnern" eher die Ausnahme und "Vergessen" die Regel ist, fasziniert die Wissenschaftsgeschichte auch durch ihre Fehler. Erich Sauer
Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens. Warum Träume so schnell verloren gehen und Erinnerungen sich ständig verändern. Galiani Berlin bei Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 351 S., 19,99
|