KOPFBILDER

Staunende Augen

Das Gehirn ist ein großes Bilderbuch.

Im menschlichen Kopf bietet ein überlebensnotwendiges Comicheft allerlei Geschichten zur Welterklärung an, und die schwarz-weiß gelassenen Seiten dürfen wir selber ausmalen. Dabei steht uns nun der Wissenschaftspublizist Martin Urban hilfreich zur Seite. Geduldig blättert er sich mit uns durch das lustige Taschenbuch, das wir Bewusstsein nennen, und erklärt uns angelegentlich, Wie die Welt im Kopf entsteht - immer im Bestreben, Zusammenhänge aufzudecken über die Kunst und Gefahr, sich eine Illusion zu machen.
Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie, ließ schon der griechische Stoiker Epiktet aus Hierapolis vor 2000 Jahren verlauten.
Um das noch plastischer zu machen, argumentiert Urban mit Shakespeare, dem es gefiel zu behaupten, die ganze Welt sei eine Bühne und die Menschen seien nur Spieler darauf. Zwar nennen wir diese Bühne Wirklichkeit, so Urban, doch verwechseln wir gern mal die Bilder, die wir uns von der Welt machen, mit der Welt, wie sie eigentlich ist - falls sie überhaupt irgendwie "ist".
Mit Hilfe selbst erfundener, archetypischer, anerzogener, oder suggerierter Bilder inszeniert der Mensch sich selbst, als sei er ein Schauspieler in einer lebenslangen Rolle und bringt so durch sein Handeln, Denken und Kulturschaffen wieder neue Bilder hervor. Wir alle, das konnten Epiktet und Shakespeare natürlich nur ahnen, leben in der Matrix.
Mit Fleiß und staunenden Augen streift der Forscher quer durch die Bilderwelten der Menschheitsgeschichte, vom Alphabet bis zur Relativitätstheorie, von der Delphischen Aufforderung zur Selbsterkenntnis bis zur Entwicklung der Jugendsprache.
Am längsten, kritischsten und eindringlichsten hält sich Diplomphysiker Urban, Leiter der Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, bei der Kirche auf und ihren Machtinstrumenten. Von Fegefeuer und Hexenverbrennung gehts zur Magie der modernen Medien, gleich darauf landen wir bei Opel und Coca Cola und bei der nicht ganz so überraschenden Erkenntnis, dass wir alle manipuliert werden, vom Papst, von Politikern und von den Werbeleuten sowieso.
Wer frei und mündig sein will, so Urbans Botschaft, muss sich von so manchem Bild lösen - aber Vorsicht: Ganz ohne Bilderbuch im Kopf ist die Welt nicht mehr deutbar. Nur wer die Zusammenhänge erkennt, findet sich im Meinungsmacher-Chaos zurecht. Ein schönes Ziel.
Julika Pohle
Martin Urban: Wie die Welt im Kopf entsteht. Von der Kunst, sich eine Illusion zu machen. Eichborn Berlin 2002, 240 S., 24,90, ISBN: 3821807156