GESCHICHTE
Minuszeiten Das Millenium kommt möglicherweise 297 Jahre zu früh Dass wir nicht im letzten Jahr dieses Jahrtausends leben, weil es eben 1901 erst anfing, weil es wiederum kein Jahr 0 am Anfang der Zeitrechnung gab ... Hühnerkacke. Dass das falsche Millenium auch nur für Verwender eines bestimmten von etwa drei Dutzend weltweit noch gebräuchlichen Kalendern und Zeitmaß-Stäben nahe ist ... Nebensache. Aber dass seit dem Jahre "1 vor" eventuell gerade erst zum 1702ten Male Frühlingsanfang war ... das hätte doch wohl Konsequenzen. Uwe Topper erläutert in Erfundene Geschichte den scheinbar aberwitzigen Gedanken - und kommt dabei zu erstaunlich logischen Schlüssen. Über haarsträubende Umwege. Und mit den schnurrigsten Beiseite-Funden. Gehen wir ein paar Schritte mit. Erstens: seit vielen Jahren prockelt eine ganze Gruppe abweichender Historiker an der Weltgeschichte herum, streicht hier mal ein paar altägyptische Dynastien, erklärt dort ganze klassische Völker (Hethiter) zur Legende ... und findet jedenfalls einen typischen Methodenfehler in allen Theorien über schlecht belegte Zeitabschnitte. Gräbt ein Archäologe etwa Aschenbecher mit gezacktem Rand aus, schliesst er auf eine Zack-Ascher-Kultur. Stösst ein anderer nebenan auf solche mit Bögen, einigen sich beide auf zwei Kulturen, die ihre Rauchsitten nacheinander auslebten. Gibt's nun auch noch ein Feuerzeug mit beiden Mustern, haben wir entweder eine verlorene Klassik (der Lighter ist älter) oder Jugendstil (andersherum). So werden aus einer Schubladenfüllung manchmal ganze Epochen-Folgen rekonstruiert. Und die "exakte Wissenschaft" hilft gar nichts. Weder das Baumringe-Zählen noch die Radiokarbon-Methode (C-14) können, sagt Topper, unabhängig voneinander Sicherheit in der Datierung bieten. Zweitens: unser Kalender wurde am 4. Oktober 1582 erfunden. Papst Gregor liess einfach die nächsten 10 Tage weg, damit am nächsten 21. März Tag und Nacht wieder gleich lang waren. Wie schon zu Cäsars Zeiten 44 vor. Dessen Vorgänger-Kalender hatte nämlich den Schaltjahres-Fehler, alle 128 Jahre 1 Tag zu viel zu zählen. Nun passen in die 1626 Jahre zwischen Cäsar und Gregor aber fast 13 mal 128 Jahre. Irrte vielleicht der Papst und liess 2-3 Tage zu wenig weg? Oder war es damals gar nicht 1582, sondern erst knapp nach 1280? Der Privat-Gelehrte Heribert Illig fand diese plakative Macke im System und wurde damit der Kopf der Zeitkorrektoren. Die von Stund an suchten, wo genau die 3 Jahrhunderte verschwunden sein könnten. Vorläufiges Fazit: in Europa folgt nach dem August 614 sofort der September 911. Dann stimmt rechnerisch alles. Leider fällt damit fast das ganze dunkle Mittelalter - und vor allem Kaiser Karl der Grosse - weg. Deshalb müssen die Korrektoren den Zeitraum als später hinzugefälscht erklären. Da werden die Argumente, die Topper heranzieht, etwas dünn. Und als Gegenargumente offensichtlich parteiisch nur die dümmsten zitiert. Drittens: andersherum wird's überzeugender. Wenn diese 297 Jahre wirklich fehlen, wenn auch in jeder Region möglicherweise an einer anderen Stelle, dann lösen sich weltweit viele Rätsel. Wieso grassierte das Jahrtausendfieber in Europa erst im 13. Jahrhundert? Einfach: dass ein Millenium seit Jesus vorbei war, glaubte man eben erst da - die offizielle Anno Domini-Zählung kam eh erst viel später in Mode. Warum konnte der Islam 300 Jahre lang wachsen, ohne dass ein Papst etwas dagegen sagte? Einfach: Mohammed war der christliche Star-Prediger Arian, dem 325 die Lizenz entzogen wurde, was wunderbar zur Hedschra 622 passt (297 Jahre "später"), der Flucht Mohammeds, mit der die islamische Zeitrechnung beginnt. Wo sind eigentlich die ausgrabaren Spuren der Wikinger, die halb Europa sagenhaft brandschatzten? Einfach: dem nordischen Händlervolk wurde die lange Raub-Vergangenheit angedichtet, von den mangels Geldwesen wirtschaftlich zu kurz gekommenen, von uns. Und weshalb vergassen Karls Architekten gleich nach dem Aachener Dom für Jahrhunderte, wie man eine grosse Kuppel baut? Einfach: der Bauherr wurde erst dazuerfunden, als die Technik reif war. Und rückdatiert, weil Mr. Europa um 1000 (vor Illigs Rechnung) dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gut als imperialer Vorläufer passte. Drei Dutzend weitere Beispiele bringt Topper auch noch. Das muss alles nicht stimmen; das hat, bei Topper mehr als beim Abweichler-Vater Illig, Verschwörungs-Züge; aber dass die offizielle Geschichtsschreibung viele, methodische und ideologische, Bruchstellen hat - das stimmt. Und wenn die Zeitkorrektoren (Blöss, Friedrich, Heinsohn, Illig, Niemitz, Topper ...) nur bewirken, dass Sylvester 1999 eine Jahrtausend-End-Party weniger stattfindet, dann hat sich der Aufwand schon gelohnt. Auch das noch: Topper erwähnt en passant, dass Kaiser Augustus, Cäsars Nachfolger, 3 Tage aus dem Kalender strich, damit sein Geburtstag "9 nach" richtig auf den 23. September falle, die Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche. Falls das wahr ist, ist Gregor aus dem Schneider, der Kalender stimmt doch - aber die Probleme mit der Chronologie bleiben. Und noch eins: 1 Jahr = einmal um die Sonne - ist etwa 20 Minuten länger als 1 Jahr zwischen zwei Frühlings-Anfängen (Tag/Nacht-Gleichen). Das ist 1 Stunde alle 3 Jahre, 1 Tag alle 72 Jahre - also 4,13 Tage in den strittigen 297 Jahren. Irren somit gar Gregor und Uwe selbander? WING
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Uwe Topper: Erfundene Geschichte. Unsere Zeitrechnung ist falsch München: Herbig 1999, 254 S. |