ZUKUNFT VON GESTERN Erfrorene Sperlinge Die letzten Erzählungen von James Tiptree jr. Als das Wünschen noch geholfen hat, also Anfang der 70er Jahre, als die Science Fiction ihre letzte Blüte erreichte und wirklich noch über die Zukunft nachgedacht wurde, tauchte ein Autor namens James Tiptree jr. in der US-Szene mit ein paar Stories auf und liess eine begeisterte Fan-Szene entstehen. Tiptrees Stories waren verspielt, aber präzise, visionär, verrückt, traurig, spannend. Die wichtigsten Preise in den 70ern räumte Tiptree mit seinen Arbeiten beinahe mühelos ab. Niemand wusste, wer James Tiptree jr. war, nicht mal sein Verleger. Er ging zu keinen Fan-Treffen, verweigerte Interviews, beteiligte sich aber dennoch (per Brief) an Diskussionen der SF-Gemeinde, gab ein paar dürre biografische Details bekannt - und beharrte höflich aber bestimmt darauf, dass die Biografie eines Autors unwichtig sei. In der Szene wurde wild spekuliert: War Tiptree ein Ex-Regierungs-Agent, ein bereits renommierter Schriftsteller, der sich einen Ausflug in die SF-Szene gönnte? - 1977 wurde das Geheimnis gelüftet: James Tiptree jr. war die 1915 geborene Psychologin Alice Hastings Bradley. Aufgewachsen in Chicago war sie, nach einer Karriere als Bildaufklärerein im Majorsrang in den Ruhestand geschickt, zusammen mit ihrem Mann, Huntington Sheldon, für die neu enstehende CIA tätig, bevor sie sich dem Psychologiestudium zuwandte und schließlich, leicht gelangweilt, 1968 der SF-Szene näherte. Alice Sheldon war auch eine SF-Autorin und wahrscheinlich die beste Short-Story-Autorin des Genres. Mehr aber war sie eine feministische Autorin, die sich am patriarchalischen Christentum aufrieb. Ihre 1985 veröffentlichte Geschichte "Morality Meat" endet so: "Unwichtig. Ausser vielleicht für ein sehr junges ( ...) Mädchen, das die Gottesmutter um Beistand angefleht hat. Sie war gut beraten, sich an diese Adresse zu wenden. Ihr eigentlicher Gott wird nämlich zusehends vergreister. Er besitzt keine Ählichkeit mehr mit dem strahlenden jungen idealistischen Gott, der dereinst die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb. Er ist zu einer stiernackigen, finster blickenden Gottheit geworden, die sich jetzt eher für Wechselkurse, Ökonomie und die Bestimmungen des Internationalen Währungsfonds interessiert. ( ...). Ausserdem ist er ziemlich taub geworden, vor allem für die höheren, feineren Stimmen der Frauen und Kinder. Es ist ein Jahrtausend her, dass er einen Vogel hat singen hören. Und seit langem fallen die Sperlinge erfroren zur Erde nieder, ohne dass er darauf achtet." Die Sheldon war die letzte Autorin in der Science Fiction, die politische Positionen und persönliche Schicksale verknüpfte. Ähnlich wie bei John Brunner oder Philip K. Dick waren ihr die technischen Fortschritte - Mittelpunkt aller schlechten SF - ziemlich schnurz. Was die Menschen aus ihrer Welt und aus sich selbst machen - davon handeln ihre Geschichten. (Es ist ein Hintertreppenwitz der Literaturgeschichte, dass die kritischsten, witzigsten und tiefsten SF-Stories der 70er Jahre von einer ehemaligen CIA-Angestellten verfasst wurden.) Ende der 70er rutschte die SF in den "Inner Space" ab, die "Cyber Punks" und Net-Freaks gaben dem Genre Mitte der 80er den Rest. Die Sternenkrone heisst ein Band, der jetzt noch ein paar bisher unveröffentlichte Sheldon-Geschichten nachlegt. Jede einzelne von ihnen ist ein kleines Juwel, fast nichts davon hat mit SF zu tun, jede von ihnen spielt in einer anderen Welt und doch in unserer. Soweit die Sheldon eine Zukunft entwirft, ist sie von Krieg, Hunger und dem Egoismus der Reichen geprägt. Die traurigste handelt von einer schönen jungen Frau, die während einer Zeitreise erfährt, dass sie sich in den falschen Mann verlieben wird. Und deshalb einen Mord begeht, aus Liebe. Am 19. Mai 1987 nahm Alice B. Sheldon ein Gewehr, um ihren 84jährigen, bettlägrigen und inzwischen blinden Mann zu erschiessen. Sie hatten es beide wohl so entschieden. Sie schoss ihm in den Kopf. Anschliessend hielt die 71jährige Dame ihren Kopf über den Gewehrlauf und brachte auch sich um. Alex Coutts
James Tiptree jr.: Die Sternenkrone Erzählungen. div. Übersetzer, Heyne Nr. 5974, München 1999, 477 S., 19,90 DM ISBN: 3453139992
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