SCIENCE FICTION
Halbwelt am Maschendraht Cyberdale statt Chippenpunk: Tad Williams' »Otherland« verkabelt eine schöne Wirklichkeit Die Hälfte ist geschafft - und die Dauerlober sind doch schon etwas erschöpft. 2000 Seiten "Tolkien des 21. Jahrhunderts" (das amerikanische Fantasy-Magazin Legend) sind kein Zuckerschlecken - der "fesselnde Mix zwischen Science-fiction und Fantasy" (das deutsche Flachblatt TV-Movie) hängt in der Mitte deutlich durch: Otherland ist je länger desto weniger anders. Außer für Tad Williams-Fans. Die gab es schon vor dem ersten Band (Stadt der goldenen Schatten) und außerhalb computerisierter Kreise. Tad Williams war bei Leuten mit viel Platz im Bücherschank längst der neue Lieblings-Fantasy-Tetraloge. Schwerter schwangen, Edelfräuleins bewarfen sich genremässig mit Tauben und Traumen, kiloweise haute Williams Schmöker mit modernem, mitwissendem Touch auf den Markt. Wer etwa die TV-Xena schon für postmodern hielt, mußte Williams schier neben Laurence Sterne setzen. Oder mindestens Robert A. Wilson, den großen Verschwörungs-Guru der 70er und der Hacker-Szene. Von dem übernahm Williams das Bösewicht-Konzept seines Otherland-Online-Abenteuers. Eine geheime Gralsbruderschaft hat einen Supercomputer gebaut, in dem wir alle dermaleinst verschwinden werden - ein noch geheimerer Kreis ist dagegen - und ein zusammengewürfelter Haufen aus echten Menschen und Computerwesen gerät zwischen Mühlstein und Mainboard, Virtual Reality und echte Leichen. Möglicherweise. Immerhin fängt Band 1 mit einer Szene aus dem ersten Weltkrieg an - und dem amerikanischen Märchen von der Wunderbohne. Und durch den 2. Band fließt der Titelfluß (umgeleitet aus P.J. Farmers Romanen) vorbei an Welten wie Steinzeit, Alice, Oz, alternativen Amerikas, hypothetischen Göttersitzen ... während das Helden-Team beim Bodysurfen die eigenen Avatare bis aufs Blut peitscht. Ganz klar ist selten, was echt ist und was nur in Echtzeit simuliert. Aber ziemlich clever ist doch, wie Williams nicht nur zitiert, sondern es auch zugibt und sein Personal sogar drauf kommen lässt, zitiert zu werden. Eigentlich ist das alles eher Michael Ende als Tolkien - und Freunde von Momo oder Bastian Bux haben sicher mehr von Otherland als Cyberpunker. Technobabbel kommt kaum vor, politisch korrekte Personen-Charakterisierungen aber die Menge: eine sehr zwielichtige aber wohl herzensgute Figur sitzt im Rollstuhl. Ist Gärtner. Und heißt Sellars. Nach dem Film Mr. Chance natürlich; wohingegen ein edler Wilder als moralische Kontroll-Instanz direkt von Aldous Huxley herkommt. Und daß das ganze Übel in der nahen Zukunft anfängt, weil ein paar Kinder anfangen, frustriert um sich zu schlagen, wenn man sie aus "Karate Killer 7" ausstöpselt ... ach, da wollte Williams wohl süffisant sein? Ja, er ist unterhaltsam, Otherland ist interessant konstruiert, und es hat auch seinen Reiz, beim allmälichen Verfertigen eines Kults (Radio Fritz) mitzuzittern (bis 2003 folgen noch Berg aus schwarzem Glas und Meer des silbernen Lichts). Aber eben nur einen aus Halbleitern, wenn man mal so witzeln darf. WING
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Tad Williams: Otherland: Stadt der goldenen Schatte n. Otherland: Fluß aus blauem Feuer. Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 1998/99, 920 S., 780 S. je DM 49.90 |