FRAUEN
Moral verschieben »Jessica, 30« - ein furioser Monolog über 250 Seiten Marlene Streeruwitz erklärt uns die Welt in drei langen Sätzen. Und weil die Welt in der post-Postmoderne natürlich prinzipiell unerklärlich ist, benutzt sie in Jessica, 30 den inneren Monolog einer jungen Frau, deren innere Unordnung als Abbild einer Welt genutzt wird, in der jeder gegen jeden kämpft, um Jobs, Geld, Liebe. In drei Kapiteln unterteilt, erleben wir Jessica beim Joggen, die uns ihr Leben, ihren Frust und ihren Liebhaber gedanklich präsentiert: das Leben ist einsam, der Job - freie Mitarbeiterin einer vage feministischen Frauenzeitschrift - der pure Frust, der Liebhaber ein etwas öliger konservativer Politiker, der sie offensichtlich nur zum Ficken benutzt. Im zweiten Kapitel beschreibt sie die abendliche Begegnung mit ihrem Lover. Eigentlich will sie ihn aushorchen über einen Sexskandal, in den er verwickelt sein soll, aber irgendwie endet alles damit, dass er nackt auf dem Sofa sitzt, mit seiner Frau telefoniert und gleichzeitig in Jessicas Mund abspritzt (sowas können wohl nur österreichische Autorinnen: die Szene ist gleichzeitig abstoßend, bedrohlich und sehr komisch). Im dritten Kapitel sitzt Jessica im Flugzeug, unterwegs nach Hamburg, um Rache zu nehmen. Das alles ist nur das Gerüst für einen überquellenden, sprunghaften Monolog, in dem Jessicas Welt behandelt wird, ihre Ängste, Hoffnungen, ihre Einblicke ("warum ist der Weg zur aufgeklärten Frau mit dem Verlust der weiblichen Subversion verbunden") und ganz privaten Enttäuschungen. Nach dem Verlust der ersten großen Liebe denkt sie: am schlimmsten ist "die Enttäuschung, dass man nicht stirbt". Dieser überaus kunstvoll gebaute und sehr amüsant zu lesende Monolog entwirft zweierlei: das wirre und fasznierierende Innenleben einer jungen Frau, die vor der Entscheidung steht, wie sie ihr Leben weiterleben will. Und das Bild einer zynisch katholischen Männergesellschaft, Österreich unter Schüssel, nach außen Konservativ und "Wertebewußt", nach innen verrottet, dass man schon nach Hamburg fliegen muß, wenn man dagegen etwas unternehmen will: "Imgrund mache ich doch nur so eine Art Umverteilung von Moral, ich verschiebe Moral dahin, wo es sie nicht genug gibt". Thomas Friedrich
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Marlene Streeruwitz: Jessica, 30. S. Fischer, Frankfurt 2004, 255 S., 18,90 ISBN:3100744276 |