LIEBE

Der Schreiber von Kabul

Eine groteske und traurige Liebesgeschichte

Die Straße in Kabul heißt "Chicken Road" (wie das Buch im Original), obwohl sich noch nie ein Vogel in den staubigen Gassen niedergelassen hat. Kabuls letzte zwei Juden, Alfred und Simon, zwei alte Männer, leben hier und hassen einander aufrichtig.
Simon, der schon zu Beginn des Buches Alfred begraben hat, erzählt ihre Geschichte. Warum sie in Afghanistan hängengeblieben sind, wie ihr Leben früher aussah, warum sie aufeinander angewiesen sind. Und warum Alfred zu Tode gesteinigt wurde.
Ohne großen Gesten erzählt Simon eine vertrackte Liebesgeschichte, die über Kontinente hinweg reicht: Ein jugendlich-unbekümmerter US-Reporter schwängert eine 17jährige Afghanin. Alfred, nebenbei Schreiber von Kabul, setzt einen Brief auf an Peter, den Journalisten, der längst wieder in die USA zurückgekehrt ist, zu seinen Kindern und seiner (ebenfalls schwangeren) Frau. Dummerweise fällt Alfreds Brief Peters Frau in die Hände. Rasend vor Eifersucht unterschlägt sie den Brief und verfällt langsam dem Wahnsinn. Peter weiß nicht, dass seine Liebschaft in Kabul wegen ihrer Schwangerschaft vom Tode bedroht ist.
Die knapp 30jährige französische Autorin Amanda Sthers findet für diese traurigste Geschichte aller Zeiten einen sarkastisch-bitteren Tonfall, der unterhält und erschüttert. Mühelos leiht sie dem greisen Simon ihre Stimme, vermeidet (fast) alle Kitsch-Klippen, die so einer Story im Wege stehen könnten, und präsentiert eine Tragödie mit recht jüdischem Witz.
Simon kann am Ende in die USA fliehen, zu seiner Schwester Huguette: "Im Winter gehe ich früh ins Bett. Ich passe auf mich auf. Ich will nie wieder frieren. Huguette und ich rufen uns unsere Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis, aber sie sind alle glücklich, also langweilen wir uns."
Victor Lachner
Amanda Sthers: Die Geisterstraße. Aus dem Französischen von Karin Erhardt. Sammlung Luchterhand, München 2006, 158 S., 8,- ISBN: 3630621074