GRÄUEL

Ist Gewalt heilbar?

Moral und Prostata: Eugen Sorg reflektiert »Die Lust am Bösen«

Als Mitglied des Internationalen Roten Kreuzes hat der Therapeut und Journalist Eugen Sorg einiges gesehen. Das meiste davon hat ihm nicht gefallen. Ob er in Bosnien war oder bei den Taliban: Überall auf der Welt sah er mordlustige Menschen, die nur das Ventil einer politischen oder religiösen "Erlaubnis" brauchten, um ihren Nachbarn zu erschlagen.

Obwohl als Therapeut zu einem anderen Blickwinkel verpflichtet, ist Sorg nicht bereit, dafür immer nur "die Umstände" verantwortlich zu machen: Nationalismus ist nicht die Ursache von Gewalt, er ist eine Ausrede, heißt es bei ihm sinngemäß.

Bis ins 19. Jahrhundert war der Mensch davon überzeugt, dass es so etwas wie "Das Böse" gibt. Dann kam die Psychoanalyse, und plötzlich war alles ganz anders: "Der Glaube an die Heilbarkeit des Bösen durch die magische Kraft der Sprechkultur wuchs sich zur veritablen Weltanschauung aus".

Dabei, so Sorg, unterschlugen die Freud-Jünger, dass der Meister eigentlich ein sehr düsteres Weltbild hatte und keineswegs der Meinung war, das Böse im Menschen ließe sich wegtherapieren; bestenfalls, so Freud, könne man es bändigen.

Um das Böse am Werk zu sehen, braucht man laut Sorg nicht mal weit zu reisen. Die jugendlichen U-Bahn-Schläger, die Rentner zusammenschlagen, die Schulhofprügler, die völlig enthemmt auf ihr Opfer eintreten, das schon wehrlos am Boden liegt, sind beste Beispiele für das, was Menschen tun, wenn man sie nur läßt.

Dass wir immer noch lieber "die Verhältnisse" verantwortlich machen als das pure Böse zu sehen, liege, so Sorg, an der beschützenden heilen Welt, in der jene leben, die unser Moralsystem entwerfen. Der "durchschnittliche westliche Lohnintellektuelle" bekommt von den Gräueln der Welt wenig mit: "Seine existentiellen Erschütterungen sind ausgebliebene Beförderungen, Buchverträge, Hypothekarzinserhöhungen, Kollegenneid, eine geheime Affäre mit einer Studentin, eine Prostataoperation."

Man möchte und muss Sorg an jeder Ecke seines Essays widersprechen, schon weil er nichts weiter als Erklärung anzubieten hat als "die Natur" des Menschen, die ja auch keine Erklärung ist. Aber in seiner traurigen Wut ist Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist ein gut zu lesendes Stück Polemik wider eine Kultur, die ständig alles verstehen möchte und daher Gefahr läuft, zu viel Verständnis zu entwickeln.

Als stärkstes Beispiel für die individuelle Verantwortlichkeit des Gewalttäters führt Sorg gerade die Ausnahmen an. Etwa jene serbischen und kroatischen Nachbarn, die einander halfen und sich dem rasenden Mob und dessen Blutrausch verweigerten. Als Argument ist das wackelig. Für jemanden, der beruflich mit Massakern und Mördern zu tun hatte, ist es gewiss der Haken, an den man seine Hoffnung hängt.

Erich Sauer
Eugen Sorg: Die Lust am Bösen. Warum Gewalt nicht heilbar ist. Nagel & Kimche im Hanser Verlag, München 2011, 155 S., 14,90