VÖLKERGEMISCH
Familientag
Zadie Smiths drolliger Viel-Völker-Roman
Am Anfang geht die Welt nicht unter - am Ende, über 600 Seiten später, scheint sie noch mal von vorne anzufangen ... dafür beginnt das Buch ungefähr in der Mitte; mit dem lustigsten scheiternden Selbstmord des letzten Jahrhunderts.
Archie Jones will nicht mehr. Sein Auto füllt sich mit Abgasen, sein verpfuschtes Leben verschwimmt ihm vor Augen ... aber dummerweise steht er in der Lieferzone einer koscheren Metzgerei, am 1. Januar 1975, ein paar Stunden nachdem schon wieder eine Weltuntergangsprophezeiung der Zeugen Jehovas in Leere lief.
Archie wird gerettet, weil er im Weg steht, Archie verliebt sich in eine junge, schwarze Zeugin Jehovas, weil die da um die Ecke wohnt und mit dem Weiterleben überfordert ist ... und Zadie Smith hat in wenigen Szenen das Universum ihres Debüt-Romans aufgespannt. Immigranten aus aller Herren Länder in England, allerlei religiöse Fragestellungen von Paulus bis zum Kalifen, der ganz grosse Atem und die ganz kleine Begebenheit. Und ein Heidenspaß am mundgenauen Texten.
Inder, Araber, Jamaikaner, weisse Kleinbürger, Intellektuelle, Iren ... jede der vielen, sehr vielen Personen kriegt gute Texte ab, jede hat immer wieder eine eigene Punchline in einer ganz eigenen Färbung. "Es ist leichter, einen passenden Staubsaugerbeutel zu finden, als einen einzigen reinen Menschen auf dieser Erde:" sagt etwa Alsana, eine freche Bengalin, als ihr Mann, Archies Kumpel, sich vor dem Fernseher über Salman Rushdie ereifert, der ihre ureigene Kultur beleidige. Der Ehestreit eskaliert, als sie einen ihrer Söhne auf dem Bildschirm erkennen, der die "Satanischen Verse" verbrennt. Natürlich ohne das Buch gelesen zu haben. Als der Sohn nach Hause kommt, brennen im Garten seine Ragga-Platten, seine Turnschuhe, seine Videos (Der Pate I und II) ... so macht Zadie Smith multikulturelle post-ethnische Scherze.
Archie und sein Kumpel und ihre beiden Familien halten das Buch über die Jahre zusammen. Von einem gemeinsamen Weltkriegserlebnis der Halbwüchsigen bei den britischen Truppen irgendwo in Bulgarien bis zum Sylvester-Abend 1999 mit Enkeln und Erblasten; möglicherweise. Denn so ganz klar ist nicht, wie das Buch ausgeht; alle Zeiten schieben sich ineinander, Erzählerkommentare mischen sich ein, mehrfach gebrochene Präsentationsweisen (incl. einer Publikumsabstimmung über den Fortgang der Handlung) beweisen: Zadie Smith schrieb Zähne Zeigen, während sie ihr Literaturwissenschaftliches Examen vorbereitete. Und sozusagen vom Hörsaal weg an der Literaturagenten-Börse zum "the next big thing" hochgepokert wurde.
Völlig zu recht - und völlig unabhängig von der Handlung, die es eh noch nicht gab, als der Bestseller beschlossen wurde. Die Markt-Strategie wollte eine junge, schöne Schwarze mit einer frischen Stimme - gekriegt haben wir eine beinahe erschreckend weise Frau voller Eigensinn und Menschenliebe, seriösen Sarkasmus, bibelfesten Punk ... und ein Lesevergnügen, das länger hält als bloß für die 643 Seiten der deutschen Ausgabe. Bis Zadie Smith ihr zweites Buch fertig hat, das "lustiger" werden, und diesmal nicht unter die Besteller-Macher fallen soll, kann man ihr erstes mit Gewinn gleich noch mal lesen.
WING
|