GIFT

Ich war's nicht

Der Seveso-Verantwortliche kann gar nix dafür

Am 10. Juli 1976, Samstag Mittag, ereignete sich in Norditalien der bis heute schlimmste Chemie-Unfall Europas. Eine riesige Wolke Dioxin entwich aus einer schlecht gewarteten Anlage und verseuchte große Teile des Ortes auf Dauer. Der Deutsche Jörg Sambeth war damals der zuständige technische Direktor beim Chemie-Giganten Hoffman-La Roche und wurde als ein Hauptverantwortlicher verurteilt. In Abwesenheit, weil seine Firma ihm verbot, zur Verhandlung in Italien vor Gericht zu erscheinen.
Heute versucht sich Jörg Sambeth an Gewissenserleichterung. Er schrieb Zwischenfall in Seveso, einen "Tatsachenroman", der sämtliche Verantwortlichen gerade nicht mit Namen nennt, und als "Opfer" im Grunde nur seinen Helden vorführt. Einen "Anton", der 28 Jahre nach dem Sündenfall das Manuskript seines Lebens-Dramas mit einem "alten Freund" diskutiert. So greift Sambeth nicht nur zur Selbsttherapie, sondern auch noch nach literarischer Form. Vergeblich.
Schon dass er die Katastrophe blass "Zwischenfall" nennt, ist nicht böse Kritik an Industrie-PR, sondern bloss Stilosigkeit. Als Literatur oder auch nur als Roman (mein Gebrauchtbuchhändler unterscheidet das säuberlich als "für die Ewigkeit" und "bloss fürs Klo") taugt der "Zwischenfall" nichts.
Als Dokument eines Zeitzeugen nützt er nicht viel, weil Sambeth, statt Lücken zu recherchieren, lieber passende Szenen nach Hörensagen oder ganz aus dem Bauch erfindet. Manche übrigens wirklich packend, vor allem in den absurden Vorstandssitzungen nahezu filmreif dramatisiert.
Es bleibt das Selbstbild eines Toren, der unter die Räder eines Weltkonzerns kam. Der sich jede ordentliche Berufsauffassung vom Jobholder-Value vergiften ließ.
WING
Jörg Sambeth: Zwischenfall in Seveso. Union, Zürich 2004, 318 S., 24,80 ISBN: 329300329X