WAHRHEITEN

Frösteln

Bernhard Schlink erzählt »Sommerlügen«

Nach dem Welterfolg seines Romans Der Vorleser fielen die großen Werke Bernhard Schlinks deutlich ab. Entweder überkonstruiert und trocken (Die Heimkehr) oder zu eng an der Frage der Terroristenbegnadigung (Das Wochenende), wurden Schlinks Geschichten immer wieder zu Parabeln ohne Leben. Nur in seinen kürzeren Erzählungen fanden weiser Blick auf die Welt, wacher Verstand für jeden Selbstbetrug, ein warmes Gefühl und etwas Witz zusammen. Nach den Liebesfluchten folgen jetzt die Sommerlügen, in denen Menschen meist fortgeschrittenen Alters wohl situiert an ihren Lebensbilanzen arbeiten. Und an ihrer Korrektur.

Das ist manchmal völlig unspektakulär, wie eine kurze Liebelei im Urlaubshotel, für die man glatt sein Leben ändern würde. Gleich, man muss nur noch diesen einen Koffer von zu Hause holen, und bleibt dann da. Manchmal ist es geradezu spannend, wenn die Reisebekanntschaft ausführlich ihre Lebensgeschichte erzählt, die erst dann auf Mord hinausläuft, wenn wir schon entschlossen sind, dem armen Mann zu helfen. Selbst wenn er die Wahrheit sagen sollte. Am schönsten wohl platzen die Lügen bei einer alten Dame, die ihre Enkel mit Erinnerungen an einen Jugendschwarm nervt, der sie verließ. Die muss entdecken, dass in Wahrheit sie den Jüngling sitzen ließ.

Das ist gepflegt verzweifelte Lektüre für die ersten Kälteschauer des Jahres. Oberflächlich ist noch alles in Ordnung, aber hier verliert jemand den Geruchssinn und dort plant einer sein Ableben, an diesem Schauplatz schwelgt Schlink in den Blumenrabatten und von jenem sagt er nur, er liege im Süden.

WING
Bernhard Schlink: Sommerlügen Diogenes, Zürich 2010, 279 S., 19,90