MÄRCHEN

Aufdringlich naiv

Sibylle Berg klimpert wieder mit den Augen

Wahrscheinlich kann keine Autorin ihre Ahnungslosigkeit so kalkuliert ausstellen wie Sibylle Berg. Mit großen Augen guckt sie in die Welt, schreibt seltsame und schöne Sachen und pflegt eine Kindersicht, die an Raffinesse kaum zu überbieten ist. Ihr neues Buch heißt Habe ich dir eigentlich schon erzählt... und nennt sich im Untertitel Ein Märchen für alle. Das ist ziemlich kokett.
Dieses Märchen ist eine realsozialistische Variante von Pünktchen und Anton: Anna und Max leben in der DDR, Anna mit ihrer alleinerziehenden und trunksüchtigen Mutter, Max mit seinem schweigsamen verwitweten Vater, der Polizist und Stütze des System ist. Anne und Max reden abwechseln in einer Art Tagebuch zu uns. Beide besitzen dabei diese gewitzte Mischung aus altklug und naiv, die 14jährige haben, wenn sie von Autorinnen ausgedacht wurden, die Märchen für alle entwerfen. Anna schreibt: "Ich habe oft das Gefühl, dass mein ganzer Körper nur aus Langeweile-Molekülen besteht."
Anna und Max lernen einander zufällig kennen und fliehen vor dem Alltag, der Einsamkeit, dem Grau der DDR. Sie werden von einem polnischen LKW-Fahrer mitgenommen, der sie über die Grenze bringt und an einen Fabrikanten ausliefern will, der Kinder gefangen hält. Als Anna und Max die Kinder befreien wollen, sagen die: Seid ihr bescheuert, wo sollen wir denn hingehen? Unsere Eltern sind Säufer oder tot, hier haben wir's wenigstens warm und was zu essen... der Gedanke ist klar.
Habe ich dir eigentlich schon erzählt... will Parabel sein und Jugendbuch und weltweise: Die Idee, dass alle das gleiche haben, kann nicht funktionieren, lässt Frau Berg durch eines ihrer altklugen Kinder verkünden. Wenn allen alles gehört, kümmert sich niemand mehr um die Einzelheiten. Nicht mal um die Kinder.
Das klingt sympathisch, kommt als Erkenntnis jedoch mit treudeutschdoofer Präzision 15 Jahre zu spät. Natürlich steckt das Buch trotzdem voll hübscher Formulierungen, etwa wenn Max den Winter beschreibt: "Die Straßen sind voller müder Erwachsener. Sie sehen aus, als ob sie weinen möchten. Das Knirschen ihrer Schritte im Schnee, und das Licht, das nicht da ist. Ich habe Angst an manchen Morgen, dass ich erwachsen werde und es immer so weiter geht wie jetzt. So ohne Wunder." Wie jedes Berg-Buch wird man auch dieses wegen solcher Passagen in Erinnerung behalten.
Thomas Friedrich
Sibylle Berg: Habe ich dir eigentlich schon erzählt... Ein Märchen für alle. Mit Zeichnungen und Collagen von Rita Ackermann und Andro Wekua. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 169 S., 7,95 ISBN: 3462037358