SCHMÖKER
Verschränkte Geschichten
Der Roman der Romane: »Die Handschrift von Saragossa«
Hundert Romane zum Preis von einem: Die Handschrift von Saragossa, im 19. Jahrhundert von Jan Graf Potocki verfaßt, ist ein wunderliches Buch. Im Stile des Decameron oder von 1001 Nacht verschränkt es Geschichten ineinander, die vor allem im nordafrikanischen und spanischen Raum spielen. Und obwohl es darin von Geistern und Dämonen nur so wimmelt, ist die "Handschrift" ein aufklärersiches Buch, das am Ende alle Religionen zu einer großen Familie vereint.
Die Handschrift von Saragossa ist kein philosophischer Roman, sie enthält Abenteuer, Liebesgeschichten, Satiren, Bekenntnisse, Historisches, Schauergeschichten, Schelmengeschichten. Aber sie ordnet das Gehörte und Erzählte ein. Vor allem die lange Geschichte des "Ewigen Juden" ist ein Parforceritt durch die Religionen, die Analysen des "Geometer", ein karikaturenhaft zerstreuter Mathematiker, versuchen, die Religionen in ein System der Vernunft zu übersetzen; Islam, Juden- und Christentum stehen gleichberechtigt nebenbeinander.
Wie in den Canterbury Tales bildet eine Reisegruppe den Rahmen der Erzählung: man vertreibt sich die Abende, in dem man Geschichten erzählt. Aber anders als in Chaucers Sammlung, ist hier die Rahmenhandlung eine eigenständige Geschichte, deren Auflösung sich erst aus den vielen anderen Geschichten ergibt: der junge Soldat, der als Ich-Erzähler den Geschichten lauscht, kann sein Schicksal erst erfüllen, als die Geschichten der Anderen ihm sozusagen die Handhabe dazu liefern: Was zuvor nur eine erotische Begegnung mit zwei hübschen Dämoninnen war, entpuppt sich als große Verschwörung.
Das Buch ist, mit Anmerkungen und einem erklärenden Nachwort versehen, bei Kein & Aber neu aufgelegt worden.
Thomas Friedrich
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