EHE

Tagebuch der Liebe

Arno Geigers »Alles über Sally« beschreibt die Mühen der Ebenen

Alfred und Sally sind seit zwei Jahrzehnten verheiratet. Das Haus in der Wiener Vorstadt ist abbezahlt, die Kinder werden erwachsen. Alfred leitet ein Museum, Sally ist Lehrerin.

Aus diesen Konstellationen hat Martin Walser einst Romane gebastelt, in denen der brillante Zorn und die zornige Brillanz des Autors Walser im Vordergrund standen: Verbürgerlichung als andauernder Anlass zur Unruhe. Geiger macht daraus eine sehr zarte Liebeserklärung an die Beharrung, an das Aushalten im Leben.

Wir begegnen Alfred und Sally Fink, als beide schon in den Fünfzigern sind. Den Urlaub müssen sie abbrechen, weil sie die Nachricht erreicht, bei ihnen zu Hause sei eingebrochen worden. Dieser nie aufgeklärter Einbruch der Vandalen in das Leben des Ehepaars Fink - die Wände im Haus sind beschmutzt, Alfreds Tagebücher verschmiert - bringt eine Irritation ins Leben, aus der heraus Sally mal wieder ihren Mann betrügen wird. Alles über Sally beschreibt das Leben vorwiegend aus Sallys Sicht. Allein von den Großeltern aufgezogen, war die Rebellion gegen die Norm eine Überlebensstrategie. Und die Liebe zu dem eher beständigen, langweiligen Alfred, den Sally in Kairo kennenlernte, war immer so etwas wie Urlaub vom Leben.

Der etwas ältere Alfred - als wir ihn kennenlernen beschwert sich Sally andauernd darüber, dass Alfred einen Gummistrumpf wegen seiner Krampfadern trägt - ist von dem Einbruch bis in die Grundfesten erschüttert. Als Konservator der Familie kann er sich keinen größeren Angriff auf seine Person vorstellen als die mutwillige Beschädigung von Erinnerungsstücken. Und während Sally mit ihrer neuen Affaire der gemeinsamen Biografie neue "Erinnerungsstücke" hinzufügt, sortiert Alfred sein Leben, in dem er seine Tagebücher erneut abschreibt.

Dieses langsame Durchwaten der gemeinsamen Untiefen ist bei Geiger mal deftig, mal witzig, mal burschikos zusammengefasst. Seine Beobachtungen sind nie aufdringlich, seine Bilder zurückhaltend platziert, seine Sprache ist sanft. Er versucht nicht, den Gedankenfluss seiner Figuren zu imitieren, auch wenn er ihnen dicht auf den Fersen ist.

Wenn Sally nach einem guten Fick schwimmen geht und auf dem Rücken liegend in der Alten Donau treibt und nach oben sieht, dann steht bei Geiger: "Der Himmel über ihr sah unwirklich aus, als wäre er voller winziger Risse und Unebenheiten." Das genügt. Ihr Liebhaber sitzt derweil am Ufer und traut sich nicht ins Wasser, weil er keine Badehose dabeihat. So lebt Sally ein wenig stellvertretend ihr Leben, und ihr Mann bekennt im vorletzten, sehr anrührenden Kapitel, was für ein Glück er hatte, diesem Leben aus der Nähe zusehen zu dürfen.

Thomas Friedrich
Arno Geiger: Alles über Sally Hanser, München 2010, 364 S., 21,50