MUSIK
Rock'n'Groll
Im Fight Club der Kritiker
Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies ist keine Fortsetzung der penetranten Lexika der populären Irrtümer. Dem Herausgeber und Musikkritiker Jim DeRogatis (derogatory: engl. für abfällig) geht es ausschließlich um das Plattmachen des tradierten RockīnīRoll-Kanons. Damit zielt der Ex-Mitarbeiter des Rolling Stone auf die mal zehn oder auch mal größenwahnsinnige hundert Alben zählenden Besten-Listen seines alten Arbeitgebers.
Dass in dem verschwitzten Rocker-Blatt die Pioniere elektronischer Musik wie Kraftwerk oder Hip-Hop-Urväter wie Run DMC kaum gewürdigt werden, ist bekannt und keines Buches wert. Tatsächlich pinkelt DeRogatis, der heute für die Chicago Sun-Times schreibt, direkt ins Zentrum der Heiligen Hallen: Die angeblich ewigen Album-Klassiker der Beatles, Beach Boys, U2 und Konsorten - alles Bullshit, und DeRogatis kannīs beweisen!
Dafür hat er eine ganze Armada von etablierten US-Musikjournalisten gebeten, ein persönlich verhasstes Werk aus dem Rocker-Schrein per Essay zu vernichten. Herausgekommen sind 32 mehr oder weniger fundierte Verrisse, viel Stoff für schlechte Laune also.
Dabei lässt sich plumpe Draufholzerei den Autoren, die u.a. für die New York Times, Village Voice, Esquire und, ähm, den Rolling Stone schreiben, nur selten vorwerfen. Zwar wird The Police im Verriss von U2īs The Joshua Tree mal kurz im Nebensatz als allerhohlste unter den Post-Punk-Bands abgekanzelt, ansonsten sind die Urteile aber gut belegt. Da verzweifelt Steve Knopper (u.a. Chicago Tribune, Wired, Newsday) an der Kluft zwischen seinen dreckig-proletarischen Helden The Who und ihrer überambitionierten Rock-Oper Tommy: Songwriter Pete Townshend hatte damals sein spirituelles Zentrum von Pornos und Speed auf indische Heilslehren verlegt; dem kreativen Output nach My Generation bekam dies gar nicht, was der Autor an der verquasten Story und der viel zu cleanen Aufnahme von Tommy festmacht.
Manche Verrisse gehen kräftig nach hinten los. Etwa wenn Jeff Nordstedt, selber Sänger bei den Milwaukees, den Beach Boys und ihrem avantgardistischen Pet Sounds den denkbar dämlichsten Vorwurf macht: Brian Wilson habe durch die Synthetisierung des Aufnahmeprozesses dem Synthesizer den Weg bereitet und damit Disco-Musik ermöglicht. Das verwendet er ernsthaft gegen Wilson, ignorierend, das es ohne Synthies und Disco keinen Techno, HipHop, Electro oder House gegeben hätte. So altbacken argumentiert nicht mal mehr der Rolling Stone.
Unterm Strich funktioniert diese Hall of Shame auf zwei Ebenen. Für Anhänger des Rock-Kanons bietet sie eine radikal alternative Sicht auf die eigene Plattensammlung.. Auf jüngere Leser, denen die Klassiker von den Eagles oder Fleetwood Mac unbekannt sind, könnten die Essays eine paradoxe Wirkung haben: Platten, die so gründlich vermurkst wurden, möchte man doch gerne noch mal selber hören.
Frank Krings
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