MATHEMATIK

Nullstellen

Atle Naess und »Die Riemannsche Vermutung«

Dies ist ein Roman, kein Sachbuch. Deshalb geht es darin auch nur angeblich um die "Riemannsche Vermutung", sondern vielmehr um ihre Anwendung als poetische Metapher. Aber wir erklären wohl besser vorab, was Atle Naess erst kapitelweise nachreicht.

Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte Bernhard Riemann in Göttingen seine später berühmte "Vermutung", die sich um Nullstellen einer komplizierten mathematischen Funktion dreht. Es geht um eine Kurve in einem vierdimensionalen Raum, um imaginäre Zahlen und die Wurzel aus Minus-1. Und es geht um Primzahlen, also nur durch sich selbst und 1 teilbare Zahlen.

Primzahlen tauchen einerseits völlig unvorhersehbar auf (1,2,5,7,11 ...), verteilen sich aber andererseits doch scheinbar nach Regeln über die Menge der normalen Zahlen, treten etwa in Paaren auf (6947, 6949). Riemann vermutete, dass die Unvorhersehbarkeit doch halbwegs berechenbar sei, wenn man sich nur auf die imaginären Zahlen, die mit Wurzel aus -1 als Faktor, konzentriere.

Mmh, knifflig. Atle Naess fängt auch knifflig an. Im ersten Satz schon ist seine Hauptperson, der Mathematiker Terje Huuse, verschwunden. Die Polizei befragt seine Tochter, aber es wird kein Kriminalroman daraus.

Zwei Seiten weiter hat die Tochter ein paar Dateien auf dem Computer ihres Vaters gefunden. Die lesen wir nun und stolpern schon wieder über eine Enttäuschung. "Die Sache wird misslingen" notiert Huuse da, und scheint selbst nicht so genau zu wissen, was er meint. Die Biografie über Bernhard Riemann, die er sich zu schreiben vorgenommen hat? Sein Leben, das mit einem Job ohne Aussichten und einer müden Ehe so dahin verläuft?

Zunächst einmal gelingt das Porträt eines spröden Bürgers in der Midlife-Krise. Huuse ist zu klug, um von seiner wissenschaftlichen Arbeit noch großes zu erwarten, und zu wohlerzogen, um aus seiner Ehe auszubrechen. Er leistet sich nur einen Volkshochschulkurs im kreativen Schreiben, um sein Material über Riemann verständlich aufbereiten zu können. Dort lernt er eine Frau kennen und gleitet langsam, schüchtern in eine Affäre mit ihr. Dazwischen versucht er, Klarheit wenigstens in Riemanns Leben und seine Arbeit zu kriegen.

Naes ist kein Mathematiker, und wenn er seinen Mathematiker Huuse die Zusammenhänge erklären lässt, dann will er offensichtlich eher auf Nullstellen, Unteilbarkeiten und Muster im wirklichen Leben hinaus. Das wirkt manchmal etwas gewollt ("Die Sehnsucht ist eins und damit unteilbar"), entfaltet aber über Ecken und Winkel einen gewissen ernsthaften, nordischen Charme.

Am Ende verschwindet Huuse spurlos, seine Riemann-Biografie bleibt Fragment, nur ein paar Polizei-Protokolle bleiben übrig, und es ist nicht mal sicher, wer eigentlich Huuses Computer-Dateien geschrieben hat.

Die Vermutung, es gebe einen nachvollziehbaren ins Unvorhersehbare, löst sich ins Imaginäre auf. Es gibt nur Nullstellen, lokale Erfüllungen, und ein Meer der Möglichkeiten.

Zahlentheoretiker finden den Roman sicher unbefriedigend, Romantiker auch, aber dazwischen ist Platz für viele genaue Beobachtungen, über Riemann und über etwas müde Gefühle.

WING
Atle Naess: Die Riemannsche Vermutung Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. Piper, München 2007, 203 S., 16,90