CHINA

Hunger auf Leben

Baal in der Vorstadt: Su Tongs »Reis«

Der Chinese Su Tong ("Rote Laterne") hat eine Mischung aus List, derber Volkserotik, Klassenstandpunkt und direkter Erzählweise drauf, die ihn erstens immer wieder mit den Herrschenden aneinandergeraten und zweitens seinen Roman Reis wie einen Brecht-Roman aussehen läßt.
China in den 30ern, während der großen Hungersnöte. Ein Lumpenproletarier wird in einer Mischung aus Güte und Berechnung von einem reichen Reishändler aufgelesen, gefüttert und zum Arbeiter befördert. Er heiratet die jüngere Tochter des Gönners (und tut dem damit einen Gefallen, weil die eine schwangere Schlampe ist), vergewaltigt die ältere, bootet den Alten aus und ist schließlich Herr der Stadt. Getrieben von seiner Erfahrung, daß Hunger das schlimmste Übel ist, das einem widerfahren kann, hat er ein direktes, sinnliches Verhältnis zum Reis, den er verkauft (im Gegensatz zum Kleinkapitalisten, für den das nur Handelsware ist). Derb und brutal wie er ist, vögelt er Frauen am liebsten in seinem Reis-Lager und schiebt ihnen die Körner händeweise in die Vagina.
Der Bürger-Bandit wird alt, hat Kinder, die nicht so wollen wie er ... es ist wirklich wie Baal in China. Trotz beeindruckender Erzählkraft und vielen gut gestellten Szenen stört die belehrende Bildhaftigkeit. So Tong teilt sich sogar seine größte handwerkliche Schwäche mit Brecht und dessen Theaterstücken: die Rand- und Nebenfiguren sind hölzern und schlecht motiviert, alle Energie und Sprachgewalt konzentriert sich auf den Protagonisten. Der macht in seiner wilden, abstoßenden Art zwar einiges her, die Geschichte jedoch leidet etwas darunter, daß er keinen rechten Widerpart hat.
Am Ende stürzt sich der wütende Sohn auf die Leiche des Vaters und bricht die Goldzähne heraus. Noch in diesem barbarischen Akt ist er ein guter Schüler seines Vaters. Und ausnahmsweise löst Su Tong dieses Bild nicht auf. Weshalb es zu den stärksten des Buches gehört.
Victor Lachner
Su Tong: Reis Deutsch von Peter Weber-Schäfer. Rowohlt, Reinbek 1998, 281 S., 38,- DM