FERNSEHEN

Big Brother im KZ

Amélie Nothomb treibt einen Trend auf die Spitze

Dann kam der Tag, an dem das Leid der Anderen ihnen nicht mehr genügte; sie wollten die Show. Es war keine besondere Qualifikation notwendig, um verhaftet zu werden. Überall fanden Razzien statt, sie nahmen jeden, ausnahmslos. Ein Mensch zu sein war das einzige Kriterium."
Mit diesen kristallklaren Sätzen beginnt Reality-Show: Ein großes KZ wird zur Unterhaltung des Publikums eingerichtet, wahllos zusammengetriebene Passanten werden zu Insassen, ausgesucht dumme, blonde brutale Männer und Frauen werden die Wächter, und alles wird von Hunderten von Kameras festgehalten.
Der Tod ist echt, der Hunger ist echt, das Elend. Neben der Entwürdigung haben die Insassen die Gewissheit, dass sie genüsslich oder genüsslich angewidert von Millionen beobachtet werden. Die Quoten der Sendung "Konzentration" explodieren ins Unermessliche. Weil jeder das sehen will. Wer keinen Fernseher hat, geht zum Nachbarn um dort zu schauen und zu sagen: gut, dass ich mir solchen Dreck nicht anzugucken brauche. Liebespaare sehen fasziniert den Exzessen zu und glauben, durch ihre Liebe geschützt zu sein. Es ist nicht das erste Mal, dass die Nothomb zeigt, wie sehr Liebe Böses hervorzubringen mag.
Nothomb, seit Jahren Expertin für Abgründiges, hält sich nicht mit den Details von Brutalitäten auf. Ihre wie immer erstaunlich dünnbeinige Novelle enthält nicht eine einzige Szene, in der Brutalität en Detail beschrieben würde. Derlei würde nur den Voyeurismus bedienen, den Reality-Show anprangert.
Das Buch konzentriert sich auf zwei Frauen, die schöne, stolze Gefangene und die plumpe Wärterin, die sich in diese Gefangene verliebt. Anhand dieser beiden Frauen wird erzählt, was zu erzählen ist: Wer ist schuld, die Politiker, die derlei zulassen, die Zuschauer, die diese Politiker gewählt haben und gebannt die "Liebe" zwischen diesen beiden Frauen verfolgen? Wie wehrt man sich gegen das Böse: Indem man Widerstand leistet und damit die Quoten beim sensationsgeilen Publikum nach oben treibt?
Reality-Show hat ein seltsames und kluges Ende. Und eine Erzählerin, die sich ihren Ekel anmerken lässt. Die Verantwortlichen haben hier keinen Namen, sie heißen etwa "ein gebildetes Schwein" oder so. Einen Namen zu haben, das ist eines der Leitthemen dieses Buches, bedeutet Schutz. Was benannt werden kann, kann nicht so einfach getötet werden. Dieser Gedanke ist nicht neu und wahrscheinlich nicht einmal richtig. Aber in dieser Geschichte ist er immerhin wahr.
Die Wärterin prügelt die schöne Gefangene anfangs fast zu Tode, damit sie deren Namen erfährt. Aber "CKZ114" schweigt. Und tauscht die Preisgabe ihres Namens für das Leben einer zum Tode verdammten Mitgefangenen ein. Man kann mit dem Bösen so lange verhandeln, bis es aufgibt und sich in so etwas wie fast "Das Gute" verwandelt. Mehr geht nicht.
Es ist schön zu sehen, wie Amélie Nothomb im Alter nicht milder, sondern zorniger wird. Reality-Show ist ein wundervoll wütendes Buch.
Victor Lachner
Amélie Nothomb: Reality-Show. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, Zürich 2007, 170 S., 17,90