RAY BRADBURY

Paradies-Träume

Der 10-Platten-Wechsler der phantastischen Literatur räumt seinen Dachboden auf

Als Neil Armstrong auf dem Mond landete, hatte Ray Bradbury längst den Mars hinter sich. Als Michael Crichton den Jurassic Park genre-technologisch zum Trend klonte, saß Ray B. zum Tee im Film-Museum bei den Pappmaché-Dinosauriern von Ray Harryhausen. Und als die Blair Witch durch das Internet stürmte, zeigte Bradburys Aprilhexe mit zitternden zitronengras-zarten Flügeln ihrem alten Freund Stephen King einen neuen Weg hinauf zum Speicher.
Obwohl: im Grunde geht Geisterfahrt, die neue Sammlung von 21 Erzählungen, den alten Weg, immer wieder zurück zu den Anfängen. Ray Bradbury, 80 Jahre alt, hat seit den 40er Jahren etwa ein Dutzend Romane und Tausende kleiner Geschichten geschrieben (17 Bände gibt es auf Deutsch), Gedichte, Essays, Film-Drehbücher ... (etwa eins zu Moby Dick) und obwohl darin mehr Dachböden als Raketen auftauchen, galt er sofort als Science Fiction-Autor.
Bis ihn die Eroberung des Weltraums umbrachte. Allzuviele sichere Daten, geheimnislose Satelliten-Fotos, Ingenieure anstelle von Kapitänen ... bei Neonlicht konnte Ray Bradbury nicht zaubern.
Stattdessen wandte er sich der eigenen Vergangenheit zu, erzählte seltsame Begebenheiten aus späten Wander-Zirkussen und frühen Film-Studios ... und nun gibt es gar keine Zukunft mehr, und kaum Technik jenseits des Telefons: in Geisterfahrt erfrieren Ehemänner an der Tiefkühlkost ihrer Gattinnen - erstarren Rentner vor Schuljahrbüchern, in denen sich die Gesichter über Generationen wiederholen - lassen sich alte Damen die Liebesbriefe von damals noch einmal zuschicken - durchsucht ein junger Student ganz Paris nach dieser Frau, mit der für Monate Reklame-Esser in einem Restaurant-Fenster war, bis er töricht seine Liebe aussprach ...
Märchen allesamt, offensichtlich, und ziemlich unmoderne dazu. Lauter kleine Paradies-Träume, leise Erinnerungen an die winzigen, schrecklichen, schönen Augenblicke gleich vor dem Erwachen - belesener Edelkitsch für die John-Boy-Generation. Aber erstens kriegen auch künstliche Antiquitäten echte Patina, und eine neuer Bradbury wirkt noch mehr anachronistisch ohne Flugzeuge als ein nach 40 Jahren wiedergefundener mit immerhin der Keimzelle des Cyberspace (I sing the body electric, 1969). Zweitens ist manches einfach wahr: Im zweiten Weltkrieg zum Beispiel wurden tatsächlich die Hughes Flugzeugwerke als Film-Studios getarnt - gegen mögliche japanische Angriffe - und die Hollywood-Studios als Hughes-Werke. Und drittens, tröstlich: ein Raumschiff ist doch noch drin in Geisterfahrt, mit einem sehr bleichen, sehr kranken Passagier an Bord. Hinten explodiert die Erde im dritten Weltkrieg, vorne liegt der Mars, Monate entfernt. Und dazwischen der Tod im Sterben. Huch.
WING
Ray Bradbury: Geisterfahrt. Erzählungen Aus dem Amerikanischen von Monika Elwenspoek. Diogenes, Zürich 2000, 265 S., 39.90 DM ISBN: 3257062346