Kidnapping Die Welt von Jack Mit "Raum" hat Emma Donoghue einen unerhört verstörenden Roman geschrieben. Es gibt Wand, Teppich und Schrank. Tisch, Fernseher und Bett. Der fünfjährige Jack, die Erzählstimme des Romans, nennt alle Möbelstücke mit ihrem Namen, wobei er das Adjektiv meistens weglässt. Jack lebt mit Ma in Raum, schläft in Schrank und tollt auf Teppich herum. Nach dem Frühstück spielen er und Ma Schreiben, dann hüpfen sie in Raum herum und machen ganz viel Krach, vor allem in Richtung Oberlicht, einer kleinen Lichtöffnung an der Decke von Raum. Danach singen Jack und Ma Lieder, spielen Sport oder Ma liest etwas vor. Und sie überlegen, was sie sich als "Sonntagsguti" wünschen, wenn Old Nick kommt. Old Nick kommt in unregelmäßigen Abständen vorbei und bringt Dinge mit, die Jack im Fernseher gesehen hat. Wenn Old Nick kommt, muss Jack im Schrank verschwinden, und dann zählt er, wie oft das Bett quietscht, auf dem Ma und Old Nick liegen. Es braucht nur wenige Seiten, bis man verstanden hat, was der fünfjährige Jack da beschreibt: Mama ist vor vielen Jahren entführt worden und wird von ihrem perversen Entführer in einem Gartenhäuschen festgehalten. Jack wurde in dieser Gefangenschaft geboren und ist Mamas ganze Sorge und einziger Trost. Quälende 200 Seiten lang zwingt uns die in Kanada lebende Irin Donoghue, die Welt mit den Augen von Jack zu betrachten, der alles, was er über die Welt weiß, aus dem Fernseher oder von Mama gelernt hat. An Jacks fünftem Geburtstag, mit dem der Roman beginnt, enthüllt Mama, dass es da draußen noch mehr gibt als "Raum" und dass sie unbedingt fliehen müssen, um dorthin zu gelangen. Die Flucht gelingt (unter ziemlich abenteuerlichen Umständen), und der wahre Horror beginnt erst jetzt, zunächst natürlich für Jack, dessen Weltbeschreibungen zunehmenden wirr werden, weil er nicht versteht, wie es so viele Menschen und so viel "Draußen" geben kann, aber auch für Mama, die bald Mittelpunkt einer Medienhysterie ist. Ob sie nie daran gedacht habe, dass es besser für Jack sein könnte, wenn er von seinem Entführer ausgesetzt und dann adoptiert worden wäre?, fragt eine Interviewerin. Auch Mamas Familie kommt nicht so ohne Weiteres mit dem Vergewaltigungskind Jack klar. Und bald wünscht sich Jack nichts sehnlicher zurück als wieder allein mit Ma in "Raum" leben zu können, zusammen mit Teppich, Schrank und Fernseher. Das herzzerreißende Irrewerden an der Welt von Jack betreibt Donoghue mit lakonischem Witz. Und obwohl nur Jack mit seiner seltsam reduzierten (und sehr poetischen) Sprache zu uns spricht, weist der Roman weit über Jacks Kinderperspektive hinaus. Dabei ist Raum zu keiner Zeit an einer irgendwie abstrakten Wahrnehmungsdebatte interessiert (wie sehen wir die Welt, wenn wir sie fast nicht sehen?). Raum beschreibt die Folgen eines unerhörten Verbrechens wie es etwa die Österreicherin Elisabeth Fritzl oder die amerikanische Schülerin Jaycee Lee Dugard erlitten, die beide in ihrer jahrelangen Gefangenschaft Kinder ihres Entführers und Vergewaltigers gebaren. Soweit man solche Schicksale in Romane übersetzen kann, ist Emma Donoghue das gelungen, vor allem weil sie nicht versucht, die Wirklichkeit zu imitieren: Ihren Romanfiguren geht es ofenkundig erheblich besser als den Frauen Fritzl, Kampusch oder Dugard; letztere lebte grausame 18 Jahre in der Gefangenschaft ihres Vergewaltigers, der auffiel als er Traktätchen verteilte, aus denen man entnehmen konnte, wie man sich und die Welt besser macht. Durch den Glauben an Jesus natürlich. Thomas Friedrich
Emma Donoghue: Raum. Deutsch von Armin Gontermann. Piper, München 2011, 410 S., 19,99
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