GEGENWART

Angst und Welt

Der Cyberpunk wird paranoid: William Gibson erobert das Heute

Rausch" ist das erste Wort im Buch, aber es ist bloß ein Name. Und das erste von wenigen Übersetzungsproblemen im neuen, neunten Roman von William Gibson. Ein paar Seiten später taucht ein Herr Braun auf, der ansonsten Brown heißt, aber das ist wohl nur Flüchtigkeit. Herr Rausch, der auch im amerikanischen Original so heißt, weckt eine gewisse Hollis Henry mitten in der Nacht, um ihr einen Job zu geben. Hollis war mal Rockstar und schlägt sich nun als Journalistin für ein technoides Zeitgeist-Magazin durch. Sie soll eine Reportage über eine neue Kunstform schreiben, die "Locative Art".

Computerfexe basteln virtuelle Projektionen bedeutender kultureller Ereignisse, die man sich mit der passenden Brille im echten Leben vor Ort in die Wirklichkeit einblenden kann. Hier starb River Phoenix auf dem Bürgersteig, dort schlüpfte Jim Morrison aus seiner Hose. Cool?

Zeitgleich schmuggelt ein russischer Exilkubaner I-pods durch die schauderhaft unorganisierte Kriminaliät im Auftrag eines rätselhaften Alten, der früher mal CIA-Agent war. Und Herr Brown nimmt, möglicherweise im Regierungsauftrag, einen Drogenabhängigen namens Milgrim als Geisel, bei dem jeder an die Milgram-Experimente zur Authoritätshörigkeit denkt. Milgrim kann russisch, und soll Brown helfen, den I-Pod-Schmuggler zu überwachen.

Lange bevor auch nur ein Hauch vom Plot entsteht, haben wir schon begriffen, dass Gibson eher keine Story erzählt, sondern ein Gegenwarts-Kaleidoskop aufblättert, in dem virtuelle Machenschaften und konkrete Macht sich überall überschneiden. Keiner traut keinem, jeder brizzelt sein Ding, und die Wahrheit, die Vision und das lange unerkennbare Ziel aller Bemühungen verschwindet immer wieder. Stattdessen wimmelt es von Markennamen und Bemerkungen darüber, was hier Trend und dort hip ist.

Ein Container voller Geld, Wiederaufbauhilfe für den Irak, der von Piraten gekidnappt wurde, flickert am Aufmerksamkeitshorizont vorbei, die Computerkünstler haben unwissentlich die Technik, ihn aufzuspüren, die Datenschmuggler transportieren unwissentlich die Hinweise, der Spion sucht sie, ohne zu wissen, um was es geht.

Gibsons Roman ist ausdrücklich gegenwartsnah, er spielt im Sommer 2006, und spielt damit, dass alle seine Figuren ihren Sinn in einer unsicheren Welt nur aus ihrer Vergangenheit ziehen.

Das ist durchaus mühsam. Und ein bisschen enttäuschend. Als Gibson vor Jahrzehnten den Cyberpunk auf einer Typenhebel-Schreibmaschine erfand, funkelte sein kommendes Universum trotz allen Pessimismus'. Heute quält man sich vollvirtuell durch einen Plot, der WLAN, Geosync und sonstiges Wired-Trallala ins Leere laufen lässt. Stephen King ohne Geister. Trotz des Original-Titels: "Spook Country".

Wing
William Gibson: Quellcode. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schaeffler. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 448 S., 22,50