FAKE & HISTORY

Imaginäre Größe

Der erfundene Autor Luther Blissett erfindet die Reformation neu

Der Mann ist ein Rätsel. Und er ist tot. Schlimmer: er hat nie gelebt. Oder noch verwirrender: er lebt als Name immer fort und wird jetzt auch noch als Autor berühmt. 1999 veröffentlichte ein Luther Blissett in Italien einen dicken, historischen Roman mit dem Titel Q - und drei Jahre später zahlte der Piper-Verlag gerüchteweise 120 Millionen Mark für das Recht, ihn nach Deutschland zu übersetzen. Zu Recht, weil er in großen Teilen hier spielt, zur Reformationszeit in Wittenberg, und nach dem blutigen Ende der Bauernkriege auch im Rest Europas. Aber auch zu Unrecht, weil Luther Blissett gleich im Internet erklärte, er sei nur ein Kampfname und Teil einer Bewegung, die das Copyright als Machtinstrument bekämpfe. Außerdem werde er sich jetzt umbringen, im rituellen Seppukku, wie der legendäre Autor Mishima. Mmh - bleiben wir erstmal beim Buch.
Das umfasst in etwa die ersten 40 Jahre im 16. Jahrhundert. In immer neuen, zeitlich übereinander geschichteten und ineinander gefalteten Episoden erzählen ein Anhänger Luthers und ein Geheimdiplomat des Vatikans vom Aufbruch der Gesellschaft. Es gibt theologische Diskussionen und strategische Analysen, es gibt viel Blut, Schweiß, Tränen und Sperma, und es gibt einen spannend gemeinten Plot um die Identitäten der Erzähler. Leider spannt der nur theoretische Gemüter auf die Folter, während simplere Naturen wie wir eher darunter leiden, dass der Protagonist mehrmals den Namen wechselt, zu den verschiedenen Phasen der Reformation und Gegen-Reformation - und sein Gegner eher undeutlich als "verborgen" bleibt. Egal.
Denn die Geschichte, die in Wirklichkeit vier junge Italiener als Gemeinschaftswerk verfassten, liefert eine Unmenge Geschichten, die rund und prall erst in zweiter Linie vom Aufbruch der Moderne erzählen - in erster aber vom Leben. Es wimmelt von pulsierenden Episoden (teils erfunden, teils in einem Archivalien-Rausch auch hunderten Bibliotheken zusammengetragen), für die allein schon die Lektüre sich lohnt.
Der politische Sinn kommt erst danach, schließlich ist der Roman zwar von einem "Luther", aber er heißt "Q", nach dem Witz-Gott der Star Trek TV-Serie sicher ebenso wie nach James Bonds Waffenschmied oder dem Buch Qohelet der Bibel. Genaueres soll jeder selbst herausfinden, verlangen die Autoren. Sie schrieben nur Szenen, in denen "Luther" als Grafitti an Mauerwände geschmiert wird, in denen Pamphlet-Drucker Subversions-Techniken der Studenten-Unruhe-Jahre vor-erfinden, in denen Revolutionäre entdecken, dass ihr Aufruhr die Geschäfte der Bankiers befördert ... wenn man einmal anfängt, "Q" als Schlüsselroman zu lesen, muss man eine ganze Enzyklopädie vergessener, trans-marxistischer Theorien zur Auflösung mit heranziehen.
Oder man stürzt sich ins Internet - und findet Luther Blissett schon Anfang der 90er in der süddeutschen Hausbesetzer-Szene. Dort wurde das Konzept einer Kommunikationsguerilla und eines "multiplen Autors" erfunden. Mit dem Absender "Luther Blissett" (eigentlich ein AC Milano-Fußball-Star der 80er) wurden zum Beispiel Erlanger auf scheinbar Rathaus-offiziellem Briefpapier zu "Staatsbürgertests" eingeladen. Oder gegen derlei Amtsmissbrauch ermittelnde Beamte mit ihrer privaten Telefonnummer per Flyer als preiswerter Pizzadienst torpediert. "L.B.", bzw. ein halbes tausend Hacker zwischen Böblingen und Bologna, schrieb Rock-Songs, lancierte verstörende Urban Legends (etwa die von der Hure, die aus Rache für ihre Aids-Infektion nun Legionen von Freiern ansteckt) oder ließ einen Künstler, mit komplett imaginierter Biographie und Werkverzeichnis, unter den NATO-Bomben aufs Kosovo sterben, Blissett fakte die Homepage des Vatikans und entführt zur Zeit Jesus-Kinder von italienischen Sakral-Statuen - mit einem Zettel, der Lösegeld "zur Verteilung an die Armen" fordert.
Spätens damit ist klar, dass die Lieblingstheorie der italienischen Presse "Luther Blissett ist Umberto Eco" nicht stimmt. Dafür ist die deutsche Internet-Presse theorie-überladener "Situationisten" gespalten: hat der erfundene Luther die Untergrund-Bewegung verraten (so wie er im Roman behauptet, dass der echte Luther sich von den Fürsten für deren Kapital-Interessen den Gesinnungs-Kampf gegen den Papst abkaufen liess)? Oder haben bloss vier clevere Kulturterroristen, deren Namen mittlerweile bekannt sind, aber natürlich nicht stimmen müssen, dem Klassenfeind eine Menge Geld für dessen kunstvoll verhohlene Demaskierung abgenommen?
Immerhin, auch in der deutschen Ausgabe steht, eine Weltneuheit im Kulturbetrieb: jeder darf "Q" im Internet verbreiten, wenn er kein Geld dafür nimmt. Dabei ist das Buch auf Papier seinen Preis dicke wert.
WING
Luther Blissett: Q. Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Piper Verlag, München/Zürich 2002, 800 S., 22.90 EU ISBN: 349204218X