GEHIRN
Synchron-Denken Ein Hirnforscher sieht sich selbst beim Zugucken zu Ernst Pöppel ist ein renommierter Wissenschaftler und ein kluger Mann. Er hat allerlei Forschungsinstitute geleitet und mehrere populärwissenschaftliche Bücher zu neuropsychologischen Fragen geschrieben. Jetzt wollte er wohl endlich auch mal weise werden und hat ein Buch über sein Hauptwissensgebiet - mmh - angeblich sich selber geschrieben. Oder hatte er nur keine Zeit, hinterm Denken ordentlich aufräumen? Oder fällt er sich selbst immerzu mit Abschweifungen (und langen Klammersätzen) ins Wort, weil das Denken an sich, in uns und überhaupt, immerzu notwendig sprunghaft ist? Kann sein. Kann auch anders sein. Pöppel legt sich prinzipiell kaum fest, wenn er aus seinem Leben plaudert, von der Arbeit im Neuro-Labor erzählt, Gedichte bespricht oder - uups - am Ende im gleichen Parlando von den Funden der ersten bemannten Marslandung berichtet: Protokollen kulturpsychologischer Experimente, die frühere Bewohner mit der Erde anstellten. Ein Scherz? Womöglich für Leute, die Pöppels Rat im 1. Kapitel zu ernst nahmen, man könne sein Buch überall anfangen zu lesen? Sollte es gar Literatur werden? Nein. Da ist kein Plan hinter Pöppels sehr langem Gedankenspiel, außer dem einen: plausibel zu machen, dass alles mit allem zusammenhängt und jedes etwas voraussetzt, als Interpretationsrahmen, als Kontext, als Kontrastfolie, als Denkmodus-Operator. Der immerwährende Versuch aber, das Darzustellende in der Form der Darstellung aufscheinen zu lassen, schadet auf Dauer beiden. Bei strenger Forschung (Gibt es Zeitquanten? Wie oszillieren Neuronen?) bleibt Pöppel dann auch länger unabgelenkt. Ist aber das Interesse erst mal geweckt, am Schicksal des Vaters im Weltkrieg, an Fragen des Managements internationaler Forschung, an Hirnstrom-Messungen oder den fünf Dimensionen der Seele ... dann glitscht Pöppels Gehirn haltlos vom "unser" zum "ich" und umgekehrt. Pöppel ist nicht Laurence Sterne (den er natürlich kennt und zitiert). Aber ein 10 Seiten langes Sachregister lockt dann doch immer wieder, noch einmal nachzugucken, was in Ernst Pöppels Gehirn zu dieser oder jener Frage vorsichgeht. WING
Ernst Pöppel: Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich. Hanser, München 2006, 549 S., 25,90 |