TONTRÄGER
Böse Töne Über Platten, die keiner hören muss Jens Raschke liebt schlechte Musik. Allerdings ist "liebt" nicht ganz das richtige Wort. "Musik" übrigens auch nicht. Und: hier gibt es nichts zu hören, nur zu lesen. Dafür wollen wir dankbar sein. Raschke stellt 38 Tonträger vor, die von ganz schön schräg (William Shatner spricht "Lucy in the Sky") bis vollkommen bescheuert reichen (Linda Polley singt John Lennon-Werke aus dem Jenseits). Er frönt damit einem Hobby, dessen kultursoziologische Relevanz in Zeiten vom mp3 und YouTube längst gegen Null tendiert, bei dem sich aber noch vor kurzem Schrullen-Sammler als unerschrockene Pop-Ethnologen fühlen konnten. Oder Entdecker der wahren Geburtsstunde des Punk. Die schlug möglicherweise schon im Mai 1970, als ein paar Kunst-Studenten ohne nennenswerte Instrumenten-Erfahrungen bei einem Talent-Wettbewerb als Symphonie-Orchester auftraten und populäre Klassiker zum Entzücken des Publikums in Grund und Boden sägten. Brian Eno und Michael Nyman waren dabei und versichern heute, es sei als ernste Avantgarde gemeint gewesen. Das Volk aber rannte entweder mit schmerzenden Ohren raus oder amüsierte sich königlich. Raschkes Buch ist voller solcher Schnurren. Oft machten bekannte Namen schlimme Platten (Josef Beuys sang "Lieber Sonne als Reagan", John Wayne lobte Amerika, Uri Geller ... ach, man glaubt es nicht), öfter machten irregeleitete No-Names mit behandlungsbedürftigem Realitätssinn Musik am Rande des Ertragbaren und darüber hinaus. Dabei ist es weniger interessant, dass es viele Trottel gibt - spannender ist, dass das Musik-Bizz, die böse Kultur-Industrie, schon in den 50ern Platz für Piraten jenseits des Mainstream bot. Die Geschichten darüber, wie Charles Manson ins Bee Gees-Tonstudio kam oder wie ein Miet-Komponist in Nashville ein Schüler-Porno-Gedicht zum Country-Gassenhauer machte, sind allemal interessanter als Raschkes flapsige Bemerkungen über die Qualität der Songs. Natürlich fehlt viel (Freddy Quinns Anti-Hippie-Ballade etwa), sicher ist Raschkes Auswahl nicht trennscharf (neben vielen Hobby-Skurrilitäten stehen auch ein paar Hits), und sein Hang zum Witzeln stört oft. Aber der Haken sitzt: Seine Außenseiter singen durchaus aus dem Herzen der Innenseiter. Wer nie Zuhause die Zahnbürste wie ein Mikro hielt, braucht dieses Buch nicht. WING
Jens Raschke: Disco Extravaganza. Eine Reise ins Wunderland der sonderbaren Töne. Ventil, Mainz 2007, 269 S., 13,90 |