Literaten Der letzte Sommer Wie sich Exil-Autoren 1936 noch einmal in Ostende trafen
Der FAZ-Journalist Volker Weidermann hat bereits versucht, sich dem Phänomen der von den Nazis verbrannten Bücher und deren Autoren enzyklopädisch zu nähern: Alle Autoren auf der ersten Liste der verbotenen Bücher hat er in einer Art Lexikon im Buch der verbrannten Bücher vorgestellt. Was an diesem Ansatz unbefriedigend ist, soll hier nicht verhandelt werden. Weidermannns Folge-Buch, der große Essay Ostende, tritt einerseits bescheidener auf (er widmet sich nur einer Gruppe Exilanten), versucht andererseits ausführlich, das Innenleben und die Beziehungen der Verjagten zu ergründen. Im Mittelpunkt steht Stefan Zweig, der gerade erfahren hat, dass seine Bücher in Deutschland endgültig nicht mehr verlegt werden dürfen. Er trifft sich 1936 in Ostende mit Joseph Roth, seinem alten Freund, der seit langem von Zweigs Geld lebt und gerade, als seine, Roths Bücher Erfolg hatten, von den Nazis verjagt wurde. Roth trifft in Ostende auf Irmgard Keun. Die ist keine Jüdin, aber trotzdem von den Nazis verboten und die einzige Autorin, die mutig und frech genug war, die Nazis deswegen wegen Schadensersatz zu verklagen; das ist mit der Haltung Oskar Maria Grafs zu vergleichen, der, als er erfuhr, dass er nicht auf der Liste der verbotenen Autoren stand, einen leidenschaftlichen Aufruf "Verbrennt mich!" veröffentlichte; danach waren seine Bücher verboten. Keun und Roth werden in Ostende ein Paar, im Schreiben wie im Saufen. Der Journalist Egon Erwin Kisch, auch in Ostende, schreibt, dass Keun Roth das Trinken abgewöhnen und Roth Keun das Trinken angewöhnen will: "Ich glaube, Roth gewinnt." Außerdem sind noch in diesem letzten deutschen Sommer Hermann Kesten und Arthur Koestler in Ostende auf Urlaub. Man schmiedet Pläne und amüsiert sich. Das Exil hat noch nicht seine schlimmsten Seiten gezeigt. Einige haben noch Besitz in Deutschland, beziehen sogar Tantieme. Und vor allem: Es gibt Länder in Europa, in denen sie leben können, weil Deutschland sie noch nicht besetzt hat. Später werden die Niederlande, Österreich, die Tschechoslowakei und Frankreich keine Zuflucht mehr bieten und zur Todesfalle. Viele der Freunde, von denen sich 1936 einige zum letzten Mal sehen, werden sich umbringen. Joseph Roth wird sich einfach zu Tode saufen und darüber sogar noch ein Buch schreiben (Die Legende vom heiligen Trinker). Stefan Zweig wird nach Brasilien emigrieren und auch dort Antisemitismus erleben. Arthur Koestler wird nach Spanien gehen und dort in Francos Todeszelle einsitzen (und entkommen). Immer wieder auf die Gegenwart von 1936 zurückkommend, erzählt Weidermann von Ostende, von der melancholischen Heiterkeit und dem tragischen Schicksal vieler der beteiligten Personen, Jahre später. Weidermanns Zusammenfassung der wichtigsten Bücher und Biografien sind präzise und machen Ostende auch für jene Leser spannend, die Autoren und Werk nicht kennen. In einem kurzen Nachwort erzählt Weidermann, dass es Ostende heute so nicht mehr gibt und auch das Hotel, in dem Zweig damals abstieg, ist verschwunden. Und in einem ganz kurzen, bissigen Abschnitt erzählt er, wie die Überlebenden nach 1945 ausgegrenzt wurden und sogar in der "Gruppe 47" unerwünscht waren. Die Ausbürgerung durch die Nazis wirkte weit über 1945 hinaus. Thomas Friedrich
Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 157 S., 17,99
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