AMÉLIE NOTHOMB

DIE KLEINE GÖTTIN

Amélie Nothomb wird jedes Jahr besser und böser

Sie hat ein großes Talent: in ihren kurzen Romanen schafft Amélie Nothomb immer wieder Situationen, die wie Versuchsanordnungen aussehen - übersichtlich, einfach, mit großer Beweiskraft. Und dann spielt sie mit den Komponenten und Figuren, und heraus kommt alles andere als der Bericht einer kalten Beobachterin, heraus kommt spannende, witzige, luzide Literatur.
Quecksilber heißt ihr vorletzer bei Diogenes erschienener Roman. Eine Pflegeschwester wird auf eine einsame Insel gerufen, auf der ein alter Kapitän und seine 40 Jahre jüngere Geliebte wohnen. Die junge Frau, heißt es, sei grauenvoll entstellt und dem Kapitän unsagbar dankbar für seine Fürsorge und Liebe, weshalb sie sich, halb wiederwillig aber doch mit Lustgefühlen, von ihm beschlafen läßt. Die Pflegeschwester, 30 Jahre alt, hübsch und lebenspraktisch, entdeckt einen Haufen Lügen. Und kann sie doch nicht aufdecken. Fast in reiner Dialogform entwickelt sich eine Geschichte, in der die Beteiligten über Liebe, Lust, List, Betrug und Schönheit streiten. Dennoch wird Quecksilber nie zu einem verfehlten Theater-stück, mit wenigen beschreibenden Sätzen stellt Nothomb ihre Figuren in die Welt und läßt sie reden. Das Buch hat zwei Enden, weil Nothomb sich nicht entscheiden konnte: ein braves und ein böses, aber beide werfen ein seltsames Licht auf das, was wir gemeinhin mit "Liebe" und "Schönheit" verbinden.
In diesen Tagen erscheint der neue Roman Methaphysik der Röhren. Hinter dem mächtigen Titel verbirgt sich die erste Autobiografie der Nothomb, die sich auf die Jahre 0 bis 3 beschränkt und mit dem schönen Satz endet: "Dann ist nichts weiter passiert". Sie beschreibt sich darin nicht als "besonderes Kind", sondern als einziges: mit ihr beginnt die Welt, mit ihr wird sie enden.
Als "pathologisch apathisch" kommt sie zur Welt. Und definiert diesen Zustand als göttlich. Wer nichts will, nichts bewegt, nichts empfindet - der ist Gott. "Die Zeit wird von der Bewegung erfunden. Was sich nicht regt, sieht die Zeit nicht vergehen." - in diesem ironischen und traurigen Tonfall erzählt sie ihre ganze Geschichte. Eines Tages muß das Sandkorn eines störenden Gedanken in diese ewige Ruhe eingedrungen sein. Jedenfalls fängt die kleine Göttin plötzlich zu schreien an, was 6 Monate andauert und erst durch weiße Schokolade zum Stillstand gebracht werden kann: die Großmutter aus Belgien war angereist und hatte das Konzept des sinnlichen Genuss' in Amélies Welt gebracht: "Seit sehr langer Zeit gibt es eine riesige Sekte von Schwachköpfen, die Sinnlichkeit für das Gegenteil von Intelligenz halten. Dies ist ein Teufelskreis: Sie enthalten sich des Genusses, um ihre intellektuellen Fähigkeiten zu steigern, mit der Folge innerer Verarmung. Sie werden immer dümmer."
Da der Vater Konsul in Kobe ist, wächst Amélie in Japan auf. Und spricht erst japanisch, dann französisch. Noch bevor sie drei ist, lernt sie lesen (mithilfe von "Tim und Struppi"), hört begeistert den Kriegsgeschichten ihrer japanischen Gouvernante zu ("Nishio-san hatte wirklich schöne Geschichten zu erzählen; sie endeten immer mit zerstückelten Körpern"), liebt den Regen, haßt Karpfen und sieht sich als Mittelpunkt ihres Universums, vor allem, wenn sie in ihrem heiß geliebten, halb zugewachsenen kleinen grünen Teich schwimmen darf: "Wenn mein Kopf auftauchte, sah ich ringsum die bewaldeten Berge. Ich war der geometrische Mittelpunkt eines Kreises voller Herrlichkeit, der sich unablässig erweiterte."
Das Paradies muß enden. Es endet dramatisch, beinahe tödlich, mit einem Selbstmordversuch.
Danach ist nichts weiter passiert. Außer dass sie jetzt Bücher schreibt mit unnachahmlich bösem und manchmal selbstzerstörerischen Humor. Und diese Bücher werden von Jahr zu Jahr besser.
Thomas Friedrich
Amélie Nothomb: Quecksilber Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. Diogenes, Zürich 2001, 166 S., 17,90 EU Amélie Nothomb: Metaphysik der Röhren Aus dem Französischen von Wolfgang Krege. Diogenes, Zürich 2002, 160 S., 16,90 EU