MYSTERY Unter London Ein neues Gruseluniversum Von Anfang an setzt der Journalist Jonathan Barnes in seinem dicken Debüt-Roman auf Verwirrung und Geheimnis. "Dieses Buch besitzt keinen wie auch immer gearteten literarischen Wert", sagt etwa ein namenloser Erzähler im ersten Kapitel, das eigentlich ein Vorwort ist vom Typ "ihr werdet es nicht glauben, aber alles ist so passiert". Später mischt sich der Erzähler kommentierend in seinen eigenen Bericht ein, rügt handelnde Personen und benimmt sich besserwisserisch, wie es eigentlich nur der Autor darf. Die Geschichte spielt jedoch 1901, also kann Jonathan Barnes kaum in ihr vorkommen. Stattdessen treten seltsame Gestalten auf, die Kapiteln von Dickens oder Stevenson entsprungen zu sein scheinen. Der abgehalfterte Zauberer und Ermittler Edward Moon zum Beispiel, der möglicherweise wirklich zaubern kann, Conan Doyle für einen schlechten Autor hält und Sherlock Holmes mit keinem Wort erwähnt. Oder ein Bordell voller kurioser Damen (mit Bart, mit Schuppenhaut, als siamesische Zwillinge), oder ein Direktorat, das Mörder und Erpresser zu geheimen Staatszwecken beschäftigt. Der Assistent Moons ist ein stummer Riese, der sich nur mit Tafel und Kreide verständigt und irgendetwas Wichtiges zu wissen scheint. Das klingt fast wie ein Kriminal-Roman, kriegt aber sehr schnell fantastische Risse: Warum erzählt eine Party-Bekanntschaft Moon, sie habe ihn bereits 1962 kennengelernt? Wieso kann eine Hellseherin bei einer Séance wirklich mit den Toten reden und wird doch als Scharlatan enttarnt? Was für ein Grauen rührt sich da im Untergrund Londons, das in wenigen Tagen Blut und Schrecken über die Stadt bringen wird? Und ist es Satire oder Groteske, wenn eine religiöse Hippie-Bewegung den bewaffneten Kampf gegen die Börse aufnimmt? Jonathan Barnes schrieb sein Debüt wie einen zweiten Band. Ständig spielen alle Personen auf nicht-erzählte Vorgeschichten an, verrückte Schauplätze werden als altbekannte eingeführt. Er liebe es, sagt er im Internet, wenn Romane Lücken für die Fantasie der Leser übrig lassen. Und verspricht, im zweiten Band viele Geheimnisse um Edward Moons Vorleben nicht zu lüften. Wing
Jonathan Barnes: Das Albtraumreich des Edward Moon Aus dem Englischen von Biggy Winter. Piper, München 2008, 400 S., 19,90
|