SINNSUCHE

Mit Gewalt

Raul Montanaris »Das letzte Experiment« deprimiert auf hohem Niveau

Die Konstruktion klingt nicht neu: der namenlose Held beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, in genau 10 Tagen. Und bis dahin will er alle sexuellen Phantasien ausgelebt haben. Behilflich ist ihm dabei die rätselhafte Edelhure Beatrice, die für ordentlich Bargeld das Gewünschte besorgt: eine prominente Journalistin, schön wie die Sünde, läßt sich anal penetrieren, drei sehr minderjährige Schulgören kommen zu Besuch ("meine drei kleinen Schweinchen") - und so weiter und sofort.
Raul Montanaris Das letzte Experiment ist dennoch keines der üblichen Werke, in denen der Held Sinn oder Sinnleere in immer rauschhafterem Sex findet. Bald ist er von seinen eigenen Phantasien angewidert, als er in einem Domina-Studio die Folterwerkzeuge sieht, mit die Herrin die gefesselte Sklavin traktieren will, versetzt er Madame eine schallende Ohrfeige und geht.
Das letzte Experiment ist ein bißchen de Sade und ein bißchen Dante - und ganz viel Italien. In die arrangierten Sexszenen platzt immer wieder die Wirklichkeit, einmal in Form einer sehr gewalttätigen politischen Demonstration, in die der Held aus Versehen gerät, das andere Mal in Form einer ausgesprochen widerlichen Szene, die bei Pasolinis "Salo" abgeguckt ist: die Herrschenden vergnügen sich, während Polizisten zwei Studentinnen vergewaltigen. Da kann der Held nur noch kotzen und flieht.
Es steckt noch mehr in dem Roman, eine zarte Liebesgeschichte, ein böser Unfall, bei dem der Held Frau und Kind verliert, ein geheimer Geheimpolizist - und immer wieder verschieben sich die Realitätsebenen, was wahr ist und was Alptraum läßt sich bis zum Ende nicht sagen. Das letzte Experiment ist ein verstörendes Buch, es enthält die unverstellte Geilheit und Detailsprache der Pornografie und weigert sich dennoch, seine Geschichte offenzulegen. Es liest sich wie ein Traum, aus dem man gern aufwachen würde.
Victor Lachner
Raul Montanari: Das letzte Experiment. Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth. Ullstein 2003, 303 S., 12,-
ISBN: 354825666X