Jugoslawien Warten auf den Untergang Vladimir Pistalo, geboren in Sarajewo und aufgewachsen in Belgrad, beschreibt die letzte Dekade des alten Millenniums, als Jugoslawien verrückt wurde. Die Geschichte beginnt mit der Beerdigung Titos, als die Freunde von Milan Djurdjevich, dem Erzähler des Romans, gemeinsam vor dem Fernseher sitzen, den Ton abgedreht, und immer wieder "Sultans of Swing" zu den pathetischen Bildern des jugoslawischen Staatsfernsehens abspielen. Heuchlerisch überbieten sich die lokalen Staatsträger in Ehrenbezeugungen und salbadern von dem Erbe und der Verpflichtung, die der Gründer Jugoslawiens hinterließ. Von der verlogenen Selbstbeweihräucherung wird 10 Jahre später nicht mehr viel übrig sein. Und Milans Belgrader Freunde - Punkmusiker, Judokämpfer, Studenten - werden in den kommenden Kriegen auf verschiedenen Seiten zu finden sein. Meist in anekdotischer Manier erzählt Milan ("Ich bin Historiker. Das ist eine schmutzige Arbeit, aber einer muss sie ja tun.") von sich und Belgrad und der jüngeren Geschichte, als jeder in Jugoslawien "mindestens einen Faschisten im Wohnzimmer" hatte, nämlich den TV-Apparat, und als die Milosevic-Clique (im Roman wird der Chef nur "Tarquinius Superbus" genannt) einen ganzen Staat in den Irrsinn jagte. Die Freunde laufen vor dem Staat davon: Einer zieht in den Krieg, einer wird Nationalist und Kriegsgewinnler, Zora wird vor lauter Kummer an Krebs sterben, und Milan, der Chronist des Wahnsinns, trauert Irina nach, die ihn verlassen hat. Die Mischung aus Privatem und Politischem, aus Traum und Analyse macht Millennium in Belgrad zu einem enorm unterhaltenden Werk. Milan interviewt die Stadt Belgrad, erzählt Bauernschwänke und Szenen aus dem Alltag in den 90ern, als die Inflation in Serbien höher war als im Deutschland der 20er Jahre, von seinem herrlichen Fick mit Irina, als die Eltern nebenan im Wohnzimmer saßen, von seinem Freund Bane, der quasi aus Versehen einberufen wurde und später in die USA emigrierte (wie der Autor Vladimir Pistalo) und mit dem er während des NATO-Angriffs auf Belgrad Emails austauscht: "Gerade bombardierst du mich wieder...." Und immer wieder geht es um den Traum von Belgrad, den verschiedene Personen im Roman träumen, von einer Stadt mit Cafés und Theatern, von "Liebenden, die sich einer am Atem des Anderen berauschen" - und niemand will diese Stadt betreten. Am Ende des Roman sagt Milan: Vielleicht gelingt es uns ja im neuen Millennium, diese Stadt zu bewohnen. "Wird mein Traum im neuen Millennium endlich mein Zuhause?" Thomas Friedrich
Vladimir Pistalo: Millennium in Belgrad. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Dittrich Verlag, Berlin 2011, 268 S., 16,80
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