UKRAINE

Ganz geheime Zauberkatzen

Andrej Kurkow fabuliert Märchen, Thriller und Satire zusammen

Man sollte den Klappentext von Der Milchmann in der Nacht nicht lesen, denn der plaudert ohne Not eine halbe Pointe aus. Aber man sollte die ersten Seiten des Buches anlesen, um sich gefangen nehmen zu lassen von dem ebenso bodenständigen wie ausgefuchsten Ton, in dem Kurkow vom einfachen Leben in Kiew und drumrum erzählt. Und von der ganz unangestrengten literaturtheoretischen Metapher, die er sowohl plaudernd als auch etwas drohend einführt:

"Es gibt Geschichten, die beginnen eines Tages und gehen nie zu Ende. Sie können einfach nicht enden, weil sie mit ihrem Beginn Dutzende einzelner Geschichten hervorbringen, von denen jede ihre Fortsetzung hat. Wie wenn ein Stein in eine Windschutzscheibe schlägt: Die Risse laufen nach allen Seiten, und mit jedem Schlagloch in der Straße wird mal der eine, mal der andere länger."

Drei Geschichten lässt Andrej Kurkow danach durcheinander laufen, und in jeder geht es um das Durcheinander von feudalem Erbe, neuen Reichen und Apparatschik-Resten im postsozialistischen Chaos. Es geht um Irina vom Dorfe, die sich für einen Elendslohn in der Stadt ihre Muttermilch abpumpen lässt und ihr eigenes Kind mit Milchpulver ernährt. Es geht um Dima vom Flughafen, der als Sicherheitsmann arbeitet und eines Tages einen herrenlosen Koffer voller seltsamer Ampullen unterschlägt. Es geht um Semjon, der sich dabei ertappt, schlafwandelnd scheinbar fremd zu gehen.

Und es geht Andrej Kurkow ganz offensichtlich immer darum, die farbig beschriebenen Einzelschicksale sowohl zu einer lebensnahen Zwischenlösung zu führen (Irinia kriegt demnächst mehr Geld), als auch in hochsymbolische Arrangements zu verwickeln. Einmal kommt eine Figur auf den Satz "Das ganze Land ist eine einzige alleinstehende Mutter." Einmal lässt die Polizei einen überschnellen Bonzen-Wagen unbehelligt und die Beamten hoffen, dass er lieber vor einen Baum als in eine Menschenmenge fährt. Einmal sitzen wir in einer Aufbewahrungshalle für verstorbene reiche Ehemänner.

Nur langsam bewegen sich Kurkows Geschichten aufeinander zu und schließlich doch aneinander vorbei. Während man hier glaubt, ein Zaubermärchen erkannt zu haben (eine tote Katze taucht verdoppelt wieder auf), kippt dort ein Drogen-Thriller in eine Demokratie-Lektion (ein Mittel gegen Angst kann ebenso tödlich wie heilsam sein) und ein Geheimdienstmann rettet uns, weil er weiß, wo es den besten Kaffee der Stadt gibt.

Wing
Andrej Kurkow: Der Milchmann in der Nacht. Aus dem Russischen von Sabine Grebing. Diogenes, Zürich 2009, 538 S., 22,90