RÄTSEL
Der Mythos der Celeste
Eigel Wiese enttarnt »Das Geisterschiff«
Auf den ersten Blick enttorkt da bloss ein maritimer Kuriositätensammler ein paar Generationen Seemannsgarn: Was geschah wirklich mit der Mary Celeste, jenem Segler, der 1872 voll seetüchtig, aber ohne Mannschaft vor den Azoren aufgegriffen wurde?
Auf den zweiten Blick taugt Eigel Wieses streckenweise ermüdend ausführliche Würdigung aller Beweise und Theorien als Fallstudie über den Umgang mit Rätselhaftigkeiten überhaupt.
Schon die Info, dass die Mary Celeste weder das einzige, noch nur das unter den seltsamsten Umständen ertappte Geisterschiff war, ist interessant. Nicht der Vorfall, erst seine Verarbeitung von vielen Seiten, mit unterschiedlichen Interessen, machte die Anekdote zum Mythos.
Dann die Einsicht, dass Unwahrscheinliches immer wieder einfach so vorkommt: ein Schiff etwa rammte zweimal, mit einem Jahr Abstand, genau das selbe steuerlos auf dem Ozean herumtreibe Wrack. Kein Geheimnis, nur Zufall. Und vor allem der Nachweis, wie unglaublich schlampig alle Bearbeiter des Stoffes, Seegerichte, Sensationsreporter und Schriftsteller, mit den echten Akten und der dünnen Faktenlage umgingen.
Das ist ein Lehrstück der Entmystifizierung, das auch Leuten was zu sagen hat, die nie ein echtes Schiff unter den Beinen hatten. Wie etwa der Vater von Sherlock Holmes, der als 20jähriger eine Story erfand, die noch heute die Geheimiskrämerseele reizt.
Der alte Fahrensmann Wiese muss nicht die echte Lösung des Celeste-Rätsels gefunden haben (Verpuffung im Schnapslager, panische Räumung, tödliche Abdrift für die Boote), tatsächlich macht er (oder sein unsauberer Lektor) ein paar seltsame Fehler in der Rekonstruktion. Aber wer von nun an irgendwas über "unerklärliche" Vorkommnisse schreibt, oder Parties damit langweilt, sollte dieses Buch kennen. Und zugeben, dass die unstrittige Wahrheit noch viel aufregender sein kann, als jedes dramatisch aufgetakelte Märchen.
WING
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